Stichwort: Entschleunigung
Entschleunigung bremst den Kopfschmerz aus
„Alles auf einmal tun zu wollen, zerstört alles auf einmal.“
Volkskrankheit: Stress
In einer Studie von Turner und Houle aus dem Jahr 2018 wurden KopfschmerzpatientInnen befragt, welche Faktoren sie als häufige Auslöser von Schmerzereignissen erleben. Für drei Viertel der Befragten wurde Stress als stärkster Auslöser empfunden. Gleichauf folgten „unregelmäßige Mahlzeiten“ und „nicht ausreichendes Trinken“. Diese Angaben fügen sich nahtlos in die Beobachtung von Ärzten und SozialwissenschafterInnen, wonach die Zahl der Menschen, die unter stressbedingten Gesundheitsproblemen wie Kopfschmerzen leiden, in den vergangenen Jahrzehnten massiv zugenommen hat. Das Phänomen Stress besetzt auch auf der Agenda der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen prominenten Platz. Die WHO nennt die Folgen von Stress sogar die größte Gesundheitsgefahr des 21. Jahrhunderts. Dass eine ‚Entschleunigung‘ die Risiken vermindern und stressbedingten Gesundheitsgefahren entgegenwirken kann, liegt auf der Hand.
Was alle gemeinsam haben: keine Zeit
Jeder empfindet es anders, doch das Phänomen ist überall das gleiche: Zeitknappheit und innere Unruhe nehmen in unserem Alltag stetig zu. Viele Menschen klagen über Zeitdruck, Stress sowie eine diffuse Angst, nicht (mehr) auf der Höhe der Zeit zu sein, kaum noch mithalten zu können. Man hat den Eindruck, dass dieser Zustand in letzter Zeit immer häufiger geworden ist und geradezu die Form einer Epidemie angenommen hat. Wir erleben eine allgemeine Beschleunigung des Lebenstempos. Diese Entwicklung beschränkt sich nicht auf den beruflichen Bereich, sondern erfasst mehr und mehr auch das Private, ja, selbst unsere Freizeitaktivitäten. Selbstoptimierung ist zu einer allgemeinen Pflichthaltung geworden, wer bewusst trödelt, muss mit der Einordnung in die Kategorien „Sonderling“ oder gar „Versager“ rechnen.
Ständig im Laufschritt
Weit verbreitet ist der Glaube, man spare Zeit ein, indem man immer mehr Handeln und Erleben in jeden Zeitabschnitt hineinpackt. Dies geschieht zunächst auf der Ebene des Tuns. Für ein vorgegebenes Ergebnis wird immer weniger Zeit veranschlagt. Paradebeispiel hierfür ist das so genannte „Speed Dating“, das inzwischen nicht mehr nur auf Partnerbörsen zu finden ist, sondern längst seinen Weg zu wissenschaftlichen Kongressen, Messen und Ausstellungen gefunden hat. Im Minutentakt wechseln Forschungsergebnisse, Marketingbotschaften, Produktkonzepte oder Bewerbungsunterlagen den Besitzer. Diese erhöhte Handlungsdichte wird durch ein weiteres Phänomen verstärkt, das vielen als „Multitasking“ bekannt ist.
Mythos Multitasking
Hierbei werden mehrere Handlungen gleichzeitig ausgeführt. Multitasking galt zeitweise als das Nonplusultra, wenn es darum ging, die Effizienz von Arbeit zu erhöhen. Diese Sichtweise hielt sich allerdings nur so lange, bis man sich in wissenschaftlichen Untersuchungen daran machte, die tatsächlichen Effekte dieser mehrspurigen Arbeitsweise zu beleuchten. Eyal Ophir von der renommierten amerikanischen Universität Stanford verglich in einem Experiment zwei Gruppen von TeilnehmerInnen miteinander. Die Herausforderung bestand darin, möglichst effektiv zwischen mehreren Aufgaben hin- und her zu wechseln. Die erste Gruppe, als „Media-Multitasker“ bezeichnet, war es gewohnt, mehrere Dinge gleichzeitig abzuarbeiten, während die zweite darin völlig ungeübt war. Die Studie zeigte Erstaunliches: Diejenigen, die in Sachen Multitasking weniger Erfahrung mitbrachten, erfüllten die Aufgaben besser als die TeilnehmerInnen, für die eine solche Aufgabe eigentlich kein Problem darstellen sollte. Ausgerechnet die ProbandInnen, die mit mehreren parallelen Anforderungen zurechtkommen sollten, zeigten eine schwächere Leistung und machten viele Fehler. Die AutorInnen führen dieses unerwartete Resultat darauf zurück, dass es den Multitaskern schwerer fiel, relevante von unbedeutenden Informationen klar zu unterscheiden. „Sie sind ständig abgelenkt“, so ein Mitautor.
Die französischen Neurowissenschaftler Charron und Koechlin konnten mithilfe bildgebender Verfahren zeigen, dass der sogenannte Präfrontale Cortex des Gehirns, der für das gleichzeitige Abarbeiten unterschiedlicher Aufgaben verantwortlich ist, sehr wahrscheinlich nur maximal zwei Ziele gleichzeitig verfolgen kann. Der Neurophysiologe Henning Beck formulierte dies einmal so: „Multitasking ist schon anatomisch für das Gehirn ein Ding der Unmöglichkeit. Da kann man noch so viel üben.“ Wenn wir also beispielsweise gleichzeitig telefonieren und eine E-Mail lesen, dann erledigt das Gehirn dies streng genommen dadurch, dass es ständig zwischen beiden Tätigkeiten hin- und herwechselt. Was uns eigentlich Zeit sparen soll, verkehrt sich allerdings ins Gegenteil, wie Beck sagt: „Zeit sparen wir nicht damit. Denn wir machen keine der Tätigkeiten richtig. Das Hin- und Herspringen kostet das Hirn zu viele Ressourcen. Wir können das messen: Beim Multitasking steigen die Fehlerraten, und wir verschwenden Energie.“ Kein Wunder, dass der Wille, viele Aufgaben zugleich erledigen zu wollen, Kopfschmerzen verursacht, weil unser Gehirn schlicht überfordert ist.
Einen Gang zurückschalten hilft
Viele klagen angesichts der Rasanz und der Rastlosigkeit, die unser Leben angenommen hat, über gesundheitliche Probleme. Diese zeigen sich in Form von wiederkehrenden, nicht selten chronischen Kopfschmerzen genauso wie in nachlassender Konzentrationsfähigkeit oder Magenbeschwerden. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind als Stressfolgen dokumentiert. Allen Beschwerden gemeinsam ist die Ursache, nämlich der Dauerstress – gelegentlich fremdverursacht, oft jedoch hausgemacht. Dort liegt auch der Schlüssel zur Genesung. Er lautet: zurückschalten, Druck vermindern, Überlastung vermeiden.
Mit einfachen Schritten kann man beginnen, die Herrschaft über die Zeit zurückzugewinnen. Das betrifft die Planung von Seminar- oder Hausarbeiten genauso wie etwa Prüfungsvorbereitungen. Dabei sollte man die Zeitpläne für anstehende Projekte so gestalten, dass sie mit realistischem Aufwand umsetzbar sind. Angesichts der Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften vermeidet man besser, mehrere Vorhaben parallel oder ineinander verschachtelt anzugehen. Regelmäßige Pausen, die auch tatsächlich eingehalten werden, sind keine Zeitverschwendung, sondern wertvolle Rückzugsräume.
Auch in der Freizeit kann man mit kleinen Veränderungen spürbare Entspannungseffekte erzielen. Nicht jede Wartezeit in der Mensaschlange muss zwingend mit dem Abrufen von Emails auf dem Smartphone gefüllt werden. Unser Gehirn ist dankbar, wenn es vom digitalen Stress des Dauerfeuers aus Fotos, Videos, Nachrichten und Belanglosem verschont bleibt. Im Englischen gibt es dafür den treffenden Begriff des „Digital Detox“. Smartphone und Laptop einmal für ein paar Stunden im Nebenraum abzulegen, die Tür zu schließen und ein Buch zur Hand zu nehmen, kann Wunder wirken.
Zudem der Appell an studierende Stubenhocker: Öfter mal rausgehen! Ein kurzer Aufenthalt im Freien, die Rekelpause auf dem Balkon, der Spaziergang im Park, eine zu Fuß erledigte Besorgung, der Cafébesuch auf eine Tasse im Sitzen anstatt ‚to go‘. All das trägt zur Entspannung bei und macht im Wortsinn „den Kopf frei“ – auch frei von Kopfschmerzen.
Nehmen wir den eigenen Tagesablauf gründlich unter die Lupe, so kommen wir fast zwangsläufig eingefahrenen Routinen auf die Spur, die viel mehr Zeit und Konzentration einfordern als ihnen zusteht. Eliminiert man nur die Hälfte davon, lässt sich der Alltag spürbar entschlacken.
Umdenken greift Raum
Erste Maßnahmen gegen die Folgen der Hochgeschwindigkeitsgesellschaft werden im universitären Umfeld wie auch in Betrieben umgesetzt. Angesichts steigender stressbedingter Krankheitsfälle scheint das auch ein Gebot ökonomischer Vernunft. So wird inzwischen in manchen Betrieben der zuvor permanente Zugang der Mitarbeiter zu ihren dienstlichen Emailkonten zeitlich begrenzt, damit sie nicht von zuhause aus bis in die Nacht hinein mit Arbeitskorrespondenz zugange sind. So kurios es klingt: Man muss offenbar manche Zeitgenossen vor sich selbst schützen – verordnetes Digital Detox.
Auch das Einhalten von Pausen wird zunehmend eingefordert und Pilotprojekte mit Entspannungsübungen auf den Weg gebracht. Solche Maßnahmen sind Teil eines gesellschaftlichen Umdenkprozesses. Immer mehr Menschen definieren Lebensqualität nicht mehr ausschließlich über ihren Verdienst aus Erwerbstätigkeit und den damit einhergehenden Konsum. An ihre Stelle tritt der Wunsch nach selbstbestimmter Lebenszeit, angemessenem Lebenstempo und Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst und anderen. Das reduziert Stress und bringt Entschleunigung. Schlechte Karten also für Kopfschmerzen.
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Literatur
read
1. Turner DP, Lebowitz AD, Chtay I, Houle TT. Forecasting Migraine Attacks and the Utility of Identifying Triggers. Curr Pain Headache Rep. 2018 Jul 16;22(9):62. doi: 10.1007/s11916-18-0715-3. Review.
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3. Martin PR. Stress and Primary Headache: Review of the Research and Clinical Management. Curr Pain Headache Rep. 2016 Jul;20(7):45. doi: 10.1007/s11916-016-0576-6. Review.
4. Houle TT, Turner DP, Golding AN, Porter JAH, Martin VT, Penzien DB, Tegeler CH. Forecasting individual Headache Attacks Using Perceived Stress: Development of a Multivariable Prediction Model for Persons With Episodic Migraine. Headache. 2017 Jul;57(7):1041-1050. doi: 10.1111/head.13137.
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6. Rouault M, Drugowitsch J, Koechlin E. Prefrontal mechanisms combining rewards and beliefs in human decision-making. Nat Commun. 2019 Jan 17;10(1):301. doi: 10.1038/s41467-018-08121-w.
7. Ophir E, Nass C, Wagner AD. Cognitive control in media multitaskers. Proc Natl Acad Sci U S A. 2009 Sep 15;106(37):15583-7. doi: 10.1073/pnas.0903620106.
8. Kouneiher F, Charron S, Koechlin E. Motivation and cognitive control in the human prefrontal cortex. Nat Neurosci. 2009 Jul;12(7):939-45. doi: 10.1038/nn.2321.
9. Donoso M, Collins AG, Koechlin E. Human cognition. Foundations of human reasoning in the prefrontal cortex. Science. 2014 Jun 27;344(6191):1481-6. doi: 10.1126/science.1252254.
10. Mansouri FA, Koechlin E, Rosa MGP, Buckley MJ. Managing competing goals – a key role for the frontopolar cortex. Nat Rev Neurosci. 2017 Nov;18(11):645-657. doi: 10.1038/nrn.2017.111.
11. https://www1.wdr.de/wissen/mensch/multitasking-102.html Multitasking – Mythos oder machbar? Autorin: Elke Hofmann
12. https://www.zeit.de/karriere/beruf/2012-08/multitasking-gehirnleistung Multitasking – Alles gleichzeitig funktioniert nicht Autorin: Tina Groll
13. Harald Neumeyer: Der Flaneur, Internetlink: https://books.google.de/books?id=dxjdAt41XpcC&printsec=frontcover&hl=de&source=gbs_atb#v=onepage&q&f=false
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