Kopfschmerz: Keine ausgedachte Krankheit, sondern reale Belastung
Kopfschmerz: Keine ausgedachte Krankheit, sondern reale Belastung
Menschen mit Kopfschmerzen und Migräne fühlen sich in ihrem Leid oft nicht ernst genommen. Weil die Schmerzen für das Umfeld nicht sichtbar sind, gelten sie schnell als nicht gravierend oder sogar ausgedacht. Dabei sind die Beeinträchtigungen, die Betroffene durch ihre Erkrankung erfahren, sehr real.
Die medizinische Forschung versucht, die Auswirkungen von Kopfschmerzen sichtbar zu machen: Forschende vieler Länder untersuchen die Einschränkungen, die für Betroffene im täglichen Leben entstehen können. So kann das Leid für Außenstehende fassbarer werden und die Betroffenen dürfen auf mehr Verständnis hoffen.
Ein Alltag mit Migräne
Nach einer Studie der amerikanischen Organisation AMPP („American Migraine Prevalence and Prevention“) leidet jede/r zweite Migränebetroffene unter einer spürbaren Beeinträchtigung durch die Erkrankung. Jede/r Fünfte erlebt sogar eine schwere Beeinträchtigung. Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, sich manchmal aufgrund der Belastung durch eine Attacke in die Bettruhe zurückziehen zu müssen. Eine weitere Untersuchung an rund 1.000 Menschen mit und ohne Migräne im Alter zwischen 21 und 30 Jahren zeigt, dass bei den Migränepatient:innen doppelt so viele manchmal wegen akuter Beschwerden nicht zur Arbeit gehen zu können.
Kopfschmerz belastet Alltag und soziale Kontakte
Nicht nur auf die Ausbildung und die Erwerbsarbeit wirkt sich Migräne aus. In einer neueren Untersuchung gaben fast 70% der Migränepatient:innen und über 55% der Betroffenen mit Spannungskopfschmerz an, dass sie während der Attacken nicht im vollen Umfang fähig waren, ihrer Erwerbsarbeit, dem Studium oder der Arbeit im häuslichen Umfeld nachzukommen. Besonders schwer wirkte sich Migräne aus. So waren die Attacken Ursache für erhebliche Fehlzeiten am Arbeitsplatz, an der Uni oder auch in der Schule. Sie führten außerdem zur Absage von Verabredungen und veranlassten die Betroffenen, die Wohnung erst gar nicht zu verlassen oder zumindest Menschenansammlungen zu meiden. Damit verursachte die Migräne erhebliche Beeinträchtigungen bei der Pflege von Sozialkontakten.
Sport meiden: ein fataler Effekt
Eine amerikanische Untersuchung von 2019 konzentriert sich auf die sportlichen Aktivitäten von Frauen, die unter Migräne leiden. Es zeigt sich, dass viele der Betroffenen nach der Diagnose ihre sportlichen Aktivitäten einschränken, und zwar aus Angst, durch (zu) starke Anstrengung könnte eine Migräneattacke ausgelöst werden. Das ist insofern fatal, als erwiesen ist, dass moderate körperliche Aktivität wie z.B. leichter Ausdauersport sich sehr positiv auf das Kopfschmerzgeschehen auswirken kann. Für Migränebetroffene ist es wichtig, dass sie, wenn sie körperlich aktiv sind, ausreichend essen und trinken, denn eine gute Versorgung mit Brennstoff und Wasser ist für sie besonders wichtig. Auf Leistungssport sollten sie verzichten, weil starke körperliche Belastung als Auslöser von Attacken wirken kann.
Stress und Belastung begünstigen Attacken
Der amerikanische Neurologe Frederick G. Freitag untersuchte eingehend, in welchen Bereichen ihres Lebens Migränebetroffene die größten Einschränkungen erfahren. Dazu wertete er eine Vielzahl von Studien aus. Demnach finden sich seit den 1990er Jahren Erhebungen, die zeigen, dass eine Migräneerkrankung bei den Patient:innen merklichen seelischen Stress erzeugt. Aber auch die empfundene Lebenskraft und die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben leiden unter der Erkrankung. Dass außerdem die Schlafqualität bei den Betroffenen deutlich beeinflusst ist, ist insofern besonders relevant, als erwiesen ist, dass schlechter Schlaf eine entscheidende Rolle bei der Auslösung neuer Attacken spielen kann.
Unersetzbar: erholsamer Schlaf
Eine Erhebung von 2005 mit über 2.500 Teilnehmenden konnte den Zusammenhang zwischen schlechtem Schlaf und Migräne gesondert nachweisen. Bei den Betroffenen zeigte sich, dass schlechtes Einschlafen und wiederholtes nächtliches Aufwachen zu Müdigkeit und Abgeschlagenheit führen. Verminderte Leistungsfähigkeit und manchmal sogar Angstzustände waren die Folgen, und die Auswirkungen des gestörten Schlafs konnten wiederum zu Auslösern von Migräne werden. (Weiteres zum Zusammenhang von Schlaf und Kopfschmerz findet sich zum Beispiel hier.)
Stress durch Migräne, Migräne durch Stress
Beim komplexen Thema des individuell empfundenen Stresses, der einerseits durch die Belastung durch Migräneattacken steigt und andererseits ein potenter Migräne-Auslöser sein kann, zeigte eine französische Studie, dass bei Migränepatient:innen das Stresslevel zwischen den Attacken signifikant höher ist als in den Kontrollgruppen. Weitere Untersuchungen zeigten, dass Betroffene grundsätzlich stärker auf emotionale Stressoren reagieren und sehr viel Energie auf interne Verteidigungs- und Coping-Strategien verwenden. Auch wurden Zustände wie Ungeduld, Reizbarkeit und das Gefühl, unter Druck zu stehen, signifikant häufiger genannt.
Eine groß angelegte Untersuchung einer internationalen Arbeitsgruppe mit über 12.000 Teilnehmenden arbeitete mit einem eigens entwickelten Fragenkatalog, dem „Migraine-Specific Quality-of-Life Questionnaire“. In der Auswertung wurde die Zahl der Kopfschmerztage mit den Angaben zur Lebensqualität in Beziehung gesetzt. Es ließ sich eindeutig zeigen, dass die von den Patient:innen beschriebene Lebensqualität mit zunehmender Migräne-Belastung abnahm. Eine erhebliche zusätzliche Verschlechterung der empfundenen Lebensqualität bewirkten depressive Phasen, Überempfindlichkeit gegenüber Schmerzwahrnehmungen und zu einem kleineren Anteil die erlebten Angstzustände. Die Autror:innen leiten aus den Resultaten die Empfehlung ab, bei der Behandlung der Patient:innen neben einer Reduzierung der Attackenhäufigkeit auch die begleitenden Faktoren, allen voran die Entstehung von Depression, stärker in den Blick zu nehmen.
All diese Untersuchungen zum Migräne-Zyklus belegen deutlich, dass Migränebetroffene nicht nur durch die erheblichen Beschwerden während der einzelnen Attacken eine große Belastung erfahren, sondern dass auch die Phasen zwischen den Attacken erhebliche Herausforderungen mit sich bringen.
Beeinträchtigungen sind auch bei Spannungskopfschmerz real
Dass sich auch Kopfschmerz vom Spannungstyp stark auf das tägliche Leben und Wohlbefinden der Betroffenen auswirkt, konnte eine schwedische Untersuchung belegen. Auch psychische Krankheitsanzeichen konnte die Studie mit dem Kopfschmerz in Verbindung bringen. So klagten die Betroffenen beispielsweise über Angstzustände, Stressempfinden, starke Stimmungsschwankungen und das Gefühl, ständig unter Druck zu stehen. Gegenüber der beschwerdefreien Kontrollgruppe führte dies zu einer deutlich geringeren empfundenen Lebensqualität.
Kopfschmerzen belasten den Uni-Alltag
Bei einer groß angelegten Erhebung der ZIES gGmbH an mehreren deutschen Hochschulen gaben über 65% der von Migräne betroffenen Studierenden an, an durchschnittlich einem Tag pro Monat an der Hochschule um die Hälfte oder mehr in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt zu sein. Bei den von Spannungskopfschmerz Betroffenen waren dies über 45%. Zuhause nicht arbeitsfähig an durchschnittlich einem Tag im Monat waren von den Migränebetroffenen über 50%, beim Spannungskopfschmerz über 25%.
Wie stark das Leben von Studierenden durch Migräne und Kopfschmerz vom Spannungstyp beeinträchtigt ist, untersucht eine irische Übersichtsarbeit von 2023. Sie wertet Befunde von mehr als 100 Studien aus. Demnach sind die bekannten Triggerfaktoren für die beiden häufigsten Kopfschmerzarten auch im Alltag von Studierenden allgegenwärtig. Außerdem gibt es in einigen Untersuchungen Hinweise darauf, dass sich in der Studierendenschaft für die Migräne die Prävalenz in den vergangenen beiden Jahrzehnten erhöht hat.
Bei Kopfschmerz vom Spannungstyp, aber besonders bei der Migräne berichten betroffene Studierende durchweg über eine deutlich beeinträchtigte Lebensqualität. Die weiblichen Patienten sind dabei stärker eingeschränkt als die männlichen. Zudem berichten studierende Frauen von einer besonders starken Schmerzintensität und von länger anhaltenden Schmerzattacken als die männlichen Kommilitonen. Aus den bisher vorliegenden Studien geht auch hervor, dass gerade unter dieser Betroffenengruppe die Bereitschaft besonders hoch ist, den Schmerzen mit Medikamenten zu begegnen. Ein Faktor könnte dabei sein, dass die Studierenden keine Fehlzeiten im Studium oder Einbußen in der Leistungsfähigkeit riskieren wollen. Was die Bereitschaft angeht, wegen der Beschwerden ärztlichen Rat zu suchen, rangiert die Gruppe der Studierenden gegenüber anderen Teilen der Bevölkerung weit am Ende der Vergleichsskala.
Auch bei den Studierenden zeigt sich, dass viele Migränebetroffene ihre sportlichen Aktivitäten einschränken, was – wie gesehen – für die Prävention neuer Attacken verheerend sein kann. Eine Besonderheit im studentischen Umgang mit Migräne liegt darin, dass Betroffene sehr vorsichtig damit sind, ihre Erkrankung öffentlich zu machen. Denkbar ist, dass hier die Angst vor einer Stigmatisierung dahintersteht. Dieses Problem anzugehen, sehen die Autor:innen als wichtige Aufgabe der universitären Einrichtungen an. Es sei wichtig, so wird betont, mit solchen Handicaps offen umzugehen, damit den Betroffenen so gut wie möglich geholfen wird und ihnen umfassende Unterstützung zuteilwerden kann. So könnten einige der krankheitsbedingten Benachteiligungen aufgefangen werden und die Betroffenen würden sich mit ihren besonderen Herausforderungen ernst genommen fühlen.
Vorbeugen wirkt
Auch wenn es sich für Betroffene oft so anfühlt – dem Kopfschmerz ist man nicht hilflos ausgeliefert. Man kann zur/m Schmerzexpert:in in eigener Sache werden und selbst aktiv vorbeugend handeln. Die tragenden Säulen der Kopfschmerzprävention sind ausreichendes und regelmäßiges Essen und Trinken, genügender und erholsamer Schlaf, regelmäßige Auszeiten und gesunde Bewegung zur Stressreduktion. Entspannungsübungen nach Jacobson haben sich in der Praxis als gutes Mittel erwiesen, Anspannungen abzubauen und damit das Risiko für Attacken zu vermindern. In der Headache Hurts-App finden Betroffene eine Kurzversion, die sie gut in ihren Alltag integrieren können. Auch in anderen Bereichen der Kopfschmerzprävention kann die App Betroffene unterstützen. Sie klärt über die wichtigsten Faktoren auf und hilft, das eigene Verhalten mit den Kopfschmerzen in Zusammenhang zu setzen. Durch eine Erinnerungsfunktion kann man sich in der Umsetzung des präventiven Verhaltens unterstützen lassen. Wer es schafft, seinen Alltag etwas umzugestalten, kann seine Beschwerden oft merklich verringern.
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