Lärm – unterschätzter Risikofaktor bei Kopfschmerzen
Lärm – der unterschätzte Risikofaktor bei Kopfschmerzen und Migräne
Jeder Mensch empfindet Lärm anders. Was den einen kaum stört, bringt andere an den Rand des Erträglichen. Gerade diejenigen Geräusche, die uns ständig umgeben, sind für viele Menschen eine starke, dauernde Belastung. Dabei steht für viele der Verkehrslärm an erster Stelle. Sei es die nahe Autobahn, die uns mit einem ungebetenen Dauergeräusch beschallt, oder die Durchgangsstraße, auf der uns vom knatternden Moped über den Kleinwagen bis hin zum schweren LKW alle möglichen Vehikel bisweilen den letzten Nerv rauben.
Dabei ist die Geräuschentwicklung keineswegs auf die unmittelbare Umgebung beschränkt. Viele Wohngebiete in der Nähe von Flughäfen können ein Klagelied davon singen. Sie leiden inzwischen massiv unter einem Phänomen, das eine in Studium, Beruf und Freizeit immerzu rastlose und mobile Gesellschaft verursacht: Fluglärm.
Kommt dann noch eine Straßenbaustelle vor dem Nachbarhaus hinzu, so ist für viele Zeitgenossen im wahrsten Sinne des Wortes die Schmerzgrenze erreicht. Aus dem Rauschen, Knattern, Wummern und Dröhnen der Umgebung entsteht eine handfeste Gesundheitsbelastung, die als Triggerfaktor eine Migräneattacke oder Kopfschmerz vom Spannungstyp auslösen kann.
Erst die Wissenschaft lieferte Beweise
Der Erkenntnis, wonach Lärm eine gesundheitliche Belastung mit mannigfachen Folgen darstellt, musste allerdings über Jahrzehnte hinweg immer wieder beharrlich Gehör verschafft werden. Viele Patienten, die Symptome wie beispielsweise Dauerkopfschmerzen mit dem Krach in ihrer Umgebung in Verbindung brachten, galten zunächst als überempfindlich oder wurden gar als nörgelnde Querulanten abgetan.
Glücklicherweise hat sich das inzwischen geändert. Wissenschaftliche Untersuchungen haben zahlreiche Belege dafür geliefert, dass Lärm als Umwelt- oder Umgebungsphänomen Kopfschmerzereignisse auslösen, aufrechterhalten oder verschlimmern kann. Im Folgenden werden hier einige der Erhebungen und ihre Ergebnisse vorgestellt.
So berichtet beispielsweise eine norwegische Studie, dass viele Migränepatienten Lärm als auslösenden Faktor für Attacken benennen. Dies gilt sowohl für Erkrankungen mit Aura (69%) als auch ohne (36 %). Darüber hinaus stellten die Wissenschaftler auch in den Migräne-freien Zeiträumen bei diesen Patienten eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Lärm fest.
Eine australische Forschergruppe unter der Leitung von Paul Martin untersuchte die Auswirkungen von Lärm auf 18 bis 30-jährige Probanden. Diese mussten schwierige Aufgaben lösen und wurden dabei zusätzlich mit Lärm konfrontiert. Dies stellt eine Konstellation dar, wie sie im Alltag von Studierenden durchaus öfter vorkommt. Das Resultat: Bei 79 Prozent der Teilnehmenden stellten sich Kopfschmerzen ein. Kein Wunder also, dass sich Lärm oft empfindlich auf das Lernvermögen und den Studienerfolg auswirkt.
Lärm wirkt schon in niedrigen Dosen
Dass es nicht unbedingt der Presslufthammer sein muss, der Kopfschmerzen erzeugt, macht eine Erhebung deutlich, in der freiwillige Probanden Geräuschen ausgesetzt wurden, die man annäherungsweise als unstrukturiertes Rauschen beschreiben kann und die im Englischen als „white noise“ bezeichnet werden. In der Folge entwickelten sich bei der Hälfte der Teilnehmer Kopfschmerzen. Hinzu kam ein interessanter Nebenbefund: Diejenigen, die nach eigenen Angaben in ihrem Alltag häufiger unter Kopfschmerzen litten, zeigten eine niedrigere Toleranzschwelle als die weniger stark betroffenen Teilnehmer. Ein wirksamer Auslöser von Kopfschmerz war der Lärm indes bei beiden Gruppen.
Die Forschungen der Arbeitsgruppe um Alan Main aus dem britischen Guildford liefern Hinweise auf eine mögliche physiologische Grundlage der vermuteten Auslösefunktion von Lärm im Kopfschmerzgeschehen. Obgleich die Hör-Empfindlichkeit, also die Funktionsfähigkeit des Gehörs, zwischen Migränepatienten und Kontroll-Probanden gleich war, konnten sie einen Unterschied zwischen beiden Gruppen nachweisen. Sie stellten fest, dass die Lärmschwelle, bei der die Teilnehmer ein deutliches Unbehaglichkeitsgefühl entwickelten (im Englischen: „hearing discomfort threshold“), bei den Migränepatienten signifikant niedriger war. Das könnte als physiologisches Korrelat erklären, warum viele Migränepatienten eine herannahende Attacke gleichsam erspüren können.
Auch junge Menschen sind betroffen
Nun sollte man annehmen, dass gerade bei jungen Menschen Lärm in Bezug auf Kopfschmerzen keine besondere Wirkung zugeschrieben wird, weil in dieser Bevölkerungsgruppe hohe Lautstärken – gerade in der Freizeit - oft als normal angesehen werden. Nicht von ungefähr kann man sich in manchen Clubs nur dann halbwegs verständlich unterhalten, wenn man es schafft, die laute Musik stimmlich zu übertönen.
Dennoch ergab eine Untersuchung der Universität Lille unter Migräne-betroffenen Kindern und Jugendlichen zwischen 7 und 17 Jahren ein völlig anderes Bild. Befragt, welche Umweltfaktoren sie als Auslöser ihrer Migräneattacken wahrnehmen, nannten mehr als die Hälfte der Probanden Lärm, der damit unter den vier wichtigsten Triggern rangierte.
Schädlich für die ganze Gesundheit
Unter Leitung der WHO wurde eine Studie durchgeführt, welche die gesamtgesundheitlichen Auswirkungen von Alltagslärm (Straßenverkehr, Nachbarschaft, Flugzeuge, Großstadt) in den Blick nahm. Man fand immense Beeinträchtigungen. Neben dem verstärkten Auftreten von Migräneattacken wurden auch Bluthochdruck, Allergien und Atemwegserkrankungen dokumentiert. Für die jüngere Bevölkerungsgruppe beschreiben die Autoren die Migräne auf Platz zwei der häufigsten Beschwerden. Sie liegt damit nur knapp hinter den Allergien und gleichauf mit Erkrankungen der Atemwege wie etwa Asthma und Bronchitis. Die Experten führen dies darauf zurück, dass die früh einsetzende und über eine lange Zeit der kindlichen und jugendlichen Entwicklung fast permanent andauernde Lärm-Exposition die Entwicklung chronischer Erkrankungen generell stark begünstigt. Bei Erwachsenen kommen die bekannten Auswirkungen einer ständigen Lärmbelastung auf das Herz-Kreislaufsystem hinzu.
Was kann man tun?
Weil Lärm fast allgegenwärtig ist, scheint man kaum eine Chance zu haben, seiner schädlichen Wirkung zu entrinnen. Doch auch hier gibt es die Möglichkeit, präventiv vorzugehen. So kann man bereits gegen den alltäglichen Lärm von einem Gehörschutz (z.B. in Form von Ohrstöpseln) Gebrauch machen. Ist man in Clubs oder bei Konzerten unterwegs, sollte man unbedingt ausreichend Abstand von den Lautsprecherboxen halten. Noch wirksamer ist es auch hier, spezielle Ohrstöpsel zu tragen, um auf „Nummer sicher“ zu gehen.
Nutzt man Kopfhörer zum Musikgenuss, ist ebenfalls Zurückhaltung angebracht. Sobald nämlich die Musik aus dem Kopfhörer die Geräusche einer lauten Umgebung überdeckt, ist die Lautstärke zu groß, und es droht Gefahr für die Gesundheit.
Genauso wichtig wie das Einhalten von Lärm-Grenzwerten im beruflichen und im Freizeitbereich ist die gezielte Nutzung von Ruhepausen und Phasen der Erholung. Auch spezielle Entspannungsübungen haben sich als äußerst wirksam erwiesen. Sie helfen, Verspannungen im ganzen Körper zu lösen und auch die Wahrnehmung der Umgebung durch unsere Sinnesorgane wieder auf ein Basisniveau zu bringen. Eine empfehlenswerte Übung findet man auf dieser Website.
Das sicherste Mittel gegen die schädliche Wirkung von Lärm und Krach besteht in einem Beitrag, den jeder leisten kann: Achtsam sein und Lärm schon bei der Entstehung vermeiden, wo immer dies möglich ist. Wenn viele dabei mitmachen, ist allen geholfen.
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Literatur
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