Migräne bei Männern: Unterschätzt und tabuisiert

Migräne bei Männern: Unterschätzt und tabuisiert
Die Migräne wird oft als ‚Frauenkrankheit‘ wahrgenommen, und tatsächlich sind Frauen häufiger von Migräne betroffen als Männer. Dass auch Männer Migräne bekommen und ihnen dadurch ein erheblicher Leidensdruck entstehen kann, ist in der öffentlichen Wahrnehmung weniger präsent. Was sagt die Forschung zur ‚Männer-Migräne‘? Sieht Migräne bei Männern anders aus, und wenn ja, woran könnte das liegen?
Die ‚Betroffenheits-Schere‘ zwischen Frauen und Männern
Alle statistischen Erhebungen zur Migränebelastung des Menschen zeigen, dass Frauen häufiger von Migräne betroffen sind als Männer. Wissenschaftliche Erhebungen konnten zeigen, dass mit dem Eintritt in die Pubertät – d.h. in den entsprechenden Studien, wenn die Mädchen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren sind – die ‚Betroffenheits-Schere‘ aufgeht. Von dem Zeitpunkt an also, wo hormonelle Einflüsse auf den Organismus immer stärker werden, nimmt auch die Migräne-Betroffenheit der Mädchen gegenüber den Jungen immer weiter zu. Der Höhepunkt des Auseinander-Driftens von männlichen und weiblichen Patienten in Bezug auf die Erkrankungshäufigkeit liegt im Altersbereich von etwa 30 Jahren.
Sieht Migräne bei Männern anders aus?
Was einschlägige Studien außerdem zeigen konnten, ist, dass neben der Häufigkeit auch das medizinische Erscheinungsbild der Erkrankung zwischen Mann und Frau verschieden ist. Demnach unterscheiden sich unter anderem die Attackenhäufigkeit und -dauer, die Schwere des wahrgenommenen Schmerzes, die allgemeine Belastung durch die Migräne sowie die gesundheitlichen Begleiterscheinungen. Auch die Wirksamkeit medikamentöser Behandlungen kann sich bei Frauen und Männern unterscheiden.
Die zugrundeliegenden Ursachen für all diese Unterschiede sind nach wie vor kaum verstanden. Neben den bekannten hormonellen Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern spielen sehr wahrscheinlich auch andere Umstände eine Rolle. Die Forschung geht inzwischen sogar davon aus, dass bei männlichen und weiblichen Patienten grundlegend verschiedene Entstehungswege der Migräne vorliegen könnten. Zur spezifischen Migränebelastung von Frauen gibt es deutlich mehr wissenschaftliche Untersuchungen – besonders was die Entstehung der Migräne, ihre Auswirkung und die daraus hervorgehenden Belastungen angeht. Das führt dazu, dass es neben der ‚Betroffenheits-Schere‘ aktuell auch eine ‚Erkenntnis-Schere‘ zwischen der Frauen- und der Männer-Migräne gibt. Mit dem Aufkommen der sogenannten „personalisierten“ Medizin beginnt sich hier allerdings eine Angleichung der Forschungsvorhaben abzuzeichnen. Dies gilt umso mehr, als die Unterschiede zwischen den Geschlechtern insgesamt an Bedeutung gewinnen und auf vielen Feldern der medizinischen Forschung zunehmend Berücksichtigung finden.
Haben Männer seltener Migräne als Frauen?
Was die Unterschiede in der Attacken-Häufigkeit zwischen den Geschlechtern angeht, sind die Angaben in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen nicht einheitlich. Eine Erhebung aus Korea etwa fand bei der Häufigkeit von Attacken keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern und auch in einer niederländischen Arbeit zeigten sich bei der Ermittlung der monatlichen Migränetage bis zu einem Alter von 50 Jahren ungefähr gleiche Zahlen. Zu anderen Resultaten gelangt eine dänische Untersuchung. Hier war sowohl die Häufigkeit von Migränekopfschmerz als auch die Stärke der Schmerzen bei Frauen höher. Zudem fielen bei weiblichen Patienten die Beschwerden im Zusammenhang mit einer Aura stärker aus als bei männlichen. Die gefühlte Krankheitslast („Burden of Disease“) wurde bei Patientinnen mit Aura sogar als besonders hoch ausgemacht.
Was die Stärke der Schmerzen während einer Migräne-Attacke angeht, kommt die Forschung in der Mehrzahl der vorliegenden Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass diese von Frauen allgemein als weit stärker beschrieben wird als von Männern. Die Schmerztoleranz und die Schmerzschwelle scheinen bei männlichen Patienten etwas höher zu sein, was die unterschiedlich stark empfundenen Schmerzen erklären könnte.
Hermeneutische Herausforderungen: Ein typisches Problem von Migräne-Studien
Manche Widersprüche bei den Ergebnissen der Wissenschaft mögen auch auf den teilweise recht unterschiedlichen Untersuchungsmethoden beruhen (Interview, Fragebogen, Online-Befragung, Apps). Auch lässt sich der Anteil der hormonell bedingten Kopfschmerzattacken trotz raffinierter Techniken nicht immer vollständig aus den Statistiken herausrechnen.
Trotz dieser hermeneutischen Herausforderungen fand man einige weitere, gut nachweisbare Unterschiede zwischen den Geschlechtern. So zeigte sich zum Beispiel, dass Männer deutlich weniger oft mit Schwindel, Übelkeit und Erbrechen zu tun hatten als Frauen. Auch machte ihnen die Empfindlichkeit gegenüber Lärm und Gerüchen (Phono- und Osmophobie) weniger stark und weniger oft zu schaffen.
Trotz dieses Unterschieds muss man davon ausgehen, dass die Belastung durch Migräne auch bei Männern ein erhebliches Maß erreicht und als Gesundheitsproblem ernst genommen werden sollte – nicht zuletzt von den Betroffenen selbst, wie wir später noch sehen werden.
Gibt es männertypische Begleiterkrankungen („Komorbiditäten“) der Migräne-Erkrankung?
Gerade bei der Migräne zeigen sich häufig Begleiterkrankungen, was die Belastung der Patient:innen weiter erhöht. Bekannt sind einerseits körperliche Krankheitsanzeichen, wie sie sich etwa im Herz-Kreislauf-System, in Form von Asthma oder auch mit Allergien bemerkbar machen. Andererseits findet man auch seelische Erkrankungen mit der Migräne verbunden – häufig solche, die dem sogenannten „depressiven Formenkreis“ zuzuordnen sind oder Angststörungen. Das sogenannte „Chronische Müdigkeits-Syndrom“ (chronic fatigue syndrome) gehört ebenfalls zu den Erkrankungsbildern, von denen die Migräne nicht selten begleitet wird.
Über die Begleiterkrankungen bei männlichen Migränepatienten findet man im Vergleich zu Arbeiten über weibliche Patienten ein sehr ausgedünntes Feld an Veröffentlichungen. Was sich abzuzeichnen scheint, ist, dass Männer nicht ganz so oft von einer begleitenden Erkrankung heimgesucht werden wie Frauen. Wenn es aber passiert, dann handelt es sich meist um andere Krankheiten als bei Frauen. So treten bei Männern beispielsweise gehäuft Verengungen der Herzkranzgefäße sowie weitere Herz-Kreislauf-Beschwerden auf. Diese Patientengruppe trägt außerdem ein erhöhtes Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, wobei das Vorhandensein einer Aura die Gefahr noch zu erhöhen scheint. Bei männlichen Betroffenen werden zudem öfter Nierensteine gefunden.
Betrachtet man die Begleiterkrankungen im Geschlechtervergleich, dann wird deutlich: Männer mit Migräne haben eher mit körperlichen Beschwerden zu kämpfen, während betroffene Frauen eher von seelischen und psycho-somatischen Krankheiten heimgesucht werden. Diese offensichtliche Ungleichverteilung birgt allerdings nach Ansicht von Wissenschaftler:innen die Gefahr, dass seelische Krankheiten bei Männern leichter übersehen werden.
Gibt es männertypische Auslöser von Migräne-Attacken?
Für eine Reihe von Migräne-Auslösern (sogenannte „Trigger“) ist bekannt, dass sie beide Geschlechter gleichermaßen betreffen: Stress, Fasten, Schlafmangel. Insgesamt scheint es bei Männern weniger Trigger zu geben als bei Frauen – oder es wurden bisher weniger beschrieben. Laut einigen Untersuchungen gibt es aber auch Auslöser, die besonders bei männlichen Migränepatienten mit einer gewissen Zuverlässigkeit eine Attacke herbeiführen oder begünstigen können. Neben alkoholischen Getränken und starker körperlicher Anstrengung wird hier auch ein Übermaß an Schlaf genannt – also das Gegenteil von Schlafmangel, der als Trigger für beide Geschlechter bekannt ist. Im Ganzen betrachtet scheint die Bedeutung spezieller Auslöser von Migräneattacken bei Männern in einer vergleichbaren Größenordnung zu liegen wie bei Frauen nach der Menopause.
Migräne bei Männern: unterschätzt, tabuisiert, unterdiagnostiziert
Das Risiko, an einer Migräne zu erkranken, ist bei Männern zwar deutlich niedriger als bei Frauen, aber es liegt keineswegs bei null. Dennoch wird die Diagnose bei ihnen nur sehr selten gestellt. Die ‚Frauenkrankheit‘ Migräne wird sowohl von den möglicherweise betroffenen Männern als auch von den behandelnden Ärztinnen und Ärzten fast völlig ausgeblendet. Dazu gesellt sich das Problem, dass männliche Patienten allgemein seltener ärztlichen Rat suchen als Frauen, selbst bei hartnäckigen Beschwerden. Mit einer Migräneerkrankung ist außerdem bis heute oft ein gesellschaftliches Stigma verbunden, das sich in der Zuschreibung von Attributen wie ‚Wehleidigkeit‘, ‚Leistungsunfähigkeit‘ oder ‚Leistungsverweigerung‘ ausdrückt. (Mehr zur Stigmatisierung von Migränebetroffenen findet sich in diesem Artikel.) Durch solche Zuschreibungen sehen sich männliche Betroffene in ihrer Männlichkeit infrage gestellt, weshalb sie auch eine deutlich spürbare Erkrankung sich selbst und anderen gegenüber nicht eingestehen wollen.
Diese Umstände erschweren es männlichen Migränepatienten erheblich, ihren Leidensdruck ernst zu nehmen, die korrekte Diagnose zu erhalten und etwas gegen ihre Erkrankung zu unternehmen. Hier ist dringend Aufklärung nötig, um das Verständnis der Betroffenen für sich selbst und die Akzeptanz in der Gesellschaft zu verbessern und so auch die sichere Diagnostik und eine nachhaltige Therapie möglichst vieler Patienten zu ermöglichen.
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Literatur
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