Migräne und Evolution: Warum trotzen ‚Migräne-Gene‘ der Selektion?
Migräne und Evolution: Warum trotzen ‚Migräne-Gene‘ der Selektion?
Unsere Erbanlagen unterliegen den Gesetzen der Evolution. Seit Beginn der Menschheit sind sie, bis zum heutigen Tag, stetigen Veränderungen ausgesetzt. Wir wissen, dass der Lauf der Evolution es vorsieht, Eigenschaften, die ihren Besitzer:innen ausschließlich Nachteile bringen, früher oder später aus dem Erbgut einer Art verschwinden zu lassen. So verhält es sich auch bei uns Menschen.
Migräne – genauer gesagt, die Veranlagung, an Migräne zu erkranken – wird durch eine Reihe von Genen im menschlichen Erbgut (mit-)beeinflusst. Auch diese Erbanlagen unterliegen den Gesetzen der Evolution. Wer unter Migräne leidet, weiß, dass die Krankheit den Betroffenen erhebliche Nachteile beschert. Wie ist es dann aber zu erklären, dass die Gene, die für die Migräne mitverantwortlich sind, nicht im Lauf der Zeit durch Selektion aus unserem Erbgut entfernt worden sind, sondern immer weiter an unsere Nachkommen vererbt werden?
Warum persistieren die ‚Migräne-Gene‘?
Einige grundsätzliche Überlegungen dazu hat sich die Kopfschmerz-Expertin Elizabeth Loder von der Harvard Medical School in Boston, USA gemacht. Ihre zentrale Frage lautet: Warum persistieren Gene, die für eine Empfindlichkeit gegenüber starkem Kopfschmerz codieren? Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich feststellen lässt, dass Migräne nicht nur über die Jahrtausende hinweg nicht verschwunden ist, sondern dass ihre Prävalenz sogar steigt.
Bei der Suche nach denkbaren Gründen nutzt Loder Erklärungsmodelle aus der sogenannten „Darwinistischen Medizin“ – einem Ansatz, der Anfang der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts von Randolph Nesse (amerikanischer Mediziner und Evolutionsbiologe) und George Williams (amerikanischer Evolutionsbiologe) entwickelt wurde. Dieser Forschungszweig untersucht unter anderem den möglichen adaptiven (d.h. Anpassungs-)Wert von genetisch bedingter Vulnerabilität gegenüber Krankheiten. Die Fragestellung ist: Gibt es bei offensichtlich negativ wirkenden Genen Umstände, unter denen diese Gene durch ihre Wirkung auf andere Eigenschaften des Individuums einen Vorteil bieten könnten? Auf die Migräne angewendet heißt das: Wenn sich zeigen lässt, dass genau die Gene, die bei ihren Träger:innen für eine Disposition zur Migräne verantwortlich sind, zugleich Vorteile mit sich bringen, die aus Sicht der Evolution gegenüber diesem Nachteil stärker zu gewichten sind, hätten wir eine Erklärung dafür, dass diese Gene bis heute nicht aus dem menschlichen Erbgut aussortiert wurden.
Eine ‚Kosten-Nutzen-Abwägung‘: Effektive Versorgung des Gehirns vs. Migräne-Leid
Im ersten Erklärungsansatz spielt das sogenannte trigemino-vaskuläre System eine entscheidende Rolle. Dieses Geflecht aus Nerven und Blutgefäßen erstreckt sich mit seinen Fortsätzen bis in die äußeren Bereiche des Großhirns und innerviert auch die Hirnhäute und deren Blutversorgung. Besteht eine potenziell lebensbedrohliche Situation, setzen die Nervenzellen augenblicklich gefäßerweiternde Botenstoffe frei, darunter auch das sogenannte „Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP)“. Diese Substanz ist ein starker Vasodilator (gefäßerweiternder Stoff), der dafür sorgt, dass sich die großen kranialen Blutgefäße weiten. Hierdurch wird eine ausreichende Versorgung mit Blut sichergestellt. Gerade CGRP steht aber im Verdacht, ursächlich (pathogenetisch) an der Entstehung von Migräne beteiligt zu sein.
Die besondere Fähigkeit, die Gehirngefäße rasch und besonders effektiv weiten zu können, kann als wertvoll gelten, weil sie im Notfall Versorgungsengpässe im Gehirn verhindern und damit Überleben sichern kann. Bei dieser sehr wirksamen Art der Regulation der Blutversorgung des Gehirns würde die Migräne gewissermaßen als „Begleiterscheinung“ entstehen. Ein Erklärungsansatz wäre dann: Die Evolution akzeptiert die Entstehung von Migräne als „Preis“ dafür, dass der Organismus über einen solchen Rettungsmechanismus verfügt. Es wird in einer Kosten-Nutzen-Abwägung ein großer Vorteil (das Überleben einer Durchblutungs-Krise) durch einen – aus Sicht der Evolution – kleinen Nachteil (die Migräne) erkauft. Darum wurden die verantwortlichen Genorte bisher noch nicht durch Selektion aus dem Erbgut entfernt.
Geruchsempfindlichkeit als evolutionärer Vorteil?
Migränepatient:innen zeigen häufig eine besondere Empfindlichkeit, manchmal gar eine regelrechte Aversion gegenüber Gerüchen. Diese Beobachtung veranlasste die Wissenschaft zu folgender Spekulation: Zu Zeiten der frühen Menschheitsentwicklung könnte sich diese Eigenschaft als nützlich erwiesen haben, weil dadurch auch Giftstoffen oder anderen schädlichen Substanzen, die durch die Nase aufgenommen werden, der Weg ins Riechorgan und damit in den Organismus erschwert oder ganz verwehrt wird. Der Riechnerv ist der einzige sensorische Nerv, der ohne zwischengeschaltete neuronale Verbindung direkt mit dem Gehirn verbunden ist, nämlich mit dem sogenannten Riechkolben im Telencephalon („Endhirn“). Durch die Nase eindringende Gefahrstoffe haben damit einen unmittelbaren Zugang zu unserem zentralen Nervensystem, was potenziell eine große Gefahr für den Organismus darstellt. Eine ausgeprägte Aversion gegen bestimmte Geruchsstoffe könnte in der Entwicklung des Menschen sehr vorteilhaft gewesen sein, weil sie das Gehirn der Betroffenen vor einer Schädigung bewahrte – zweifellos ein deutlicher Nutzen im Sinne der Arterhaltung.
Ein entscheidender Faktor: Die Evolution übereilt nichts
Das zentrale Nervensystem von Migränebetroffenen weist einige Besonderheiten auf. Es ist besonders empfindlich für jede Art von Input aus der Umgebung, speziell wenn der sensorische Bereich des Trigeminus-Systems angeregt wird. So haben Betroffene oft nicht nur einen niedrigeren Schwellenwert für Gerüche, sondern auch für andere sensorische Reize wie Licht oder Lärm, und auch ihre Schmerzschwelle ist herabgesetzt. Außerdem ist die sogenannte chronologische Toleranz niedriger, was bedeutet, dass etwa ausgelassene Mahlzeiten oder ein unregelmäßiger Schlafrhythmus für Betroffene besonders starke Auswirkungen haben. Auch die allgemeine Stressresistenz ist vermindert. Bei alledem gilt aber: Das zentrale Nervensystem von Menschen mit Migräneveranlagung zeichnet sich durch eine hohe Verarbeitungsgeschwindigkeit für Signale aller Art aus.
Nun sehen unsere modernen Lebensumstände ziemlich genau so aus, dass sie für Menschen mit diesen Anlagen eine besondere Herausforderung darstellen: Reizüberflutung, Alltagshektik, Schlafprobleme und unregelmäßiges Essen sind klassische Migränetrigger, und wir sind heute viel häufiger mit ihnen konfrontiert, als es den weitaus größten Teil unserer bisherigen Stammesentwicklung hinweg der Fall war. Das passt gut zu der Beobachtung, dass die Migräneprävalenz allgemein steigt. Es könnte sein, dass die Effekte der beim Menschen schon seit Urzeiten vorhandenen Migräne-Disposition heute schlichtweg größer sind, weil die Trigger überhandnehmen. Vielleicht tragen wir die Migräne von jeher in unseren Genen mit, merken aber erst seit wenigen Jahrhunderten, dass sie so schmerzhafte Ausprägungen haben kann. Die Mechanismen der Evolution konnten gegen diese neue Leidensentwicklung bisher noch nicht wirksam werden, weil die Evolution eine langwierige Angelegenheit ist – aus unserer Sicht. Man muss bedenken: Die letzten Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte gleichen einem Wimpernschlag angesichts der zeitlichen Dimensionen, in denen sich die Evolution unserer Art abspielt.
Fazit: Die evolutionäre Rechnung stimmt (noch)
Die Migräne als Krankheitsbild könnte Ergebnis eines „Deals“ der Evolution sein. Potenziell, aber nicht dauerhaft oder stark schädigende Gene wie die der Migräne könnten deshalb persistieren und im Genom behalten werden, weil einige Vorteile, die mit ihnen einhergehen, groß genug sind, um einen übergeordneten Nutzen zu haben. Die Sicherung der Hirndurchblutung oder der Schutz vor Toxinen beispielsweise können das Individuum vor Gefahren bewahren, die im schlimmsten Fall zu dessen Tod führen. Der ‚Begleitumstand‘ Migräne erscheint dann im Vergleich als weniger bedeutsam, der „Preis“ des Migräneleids ist also aus Sicht der Evolution angesichts dieser Vorteile gerechtfertigt. Nach allem, was wir heute wissen, kann man sagen: Die genetische Veranlagung zur Migräne gibt es bis heute, weil sie in der evolutionären „Kosten-Nutzen-Abwägung“ weiterhin als hinnehmbar gilt: Sie geht mit Selektionsvorteilen einher, die bei anderen wichtigen Aspekten in der Menschheitsentwicklung von Nutzen waren, und möglicherweise heute noch sind.
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