Kognitive Eigenheiten der Migräne – Segen oder Fluch?
Migräne und ihre kognitiven Besonderheiten – Segen oder Fluch?
Das Gehirn von Menschen mit Migräne zeichnet sich durch eine besondere Reizverarbeitung aus. Die Kopfschmerzforschung geht davon aus, dass das Gehirn eines Migränebetroffenen Reize früher und schneller verarbeitet, als es bei einem Menschen ohne Migräneveranlagung der Fall ist. In der jüngeren Zeit konnte nachgewiesen werden, dass spezifische Veränderungen im menschlichen Erbgut für diese besondere kognitive Veranlagung sorgen. Zu diesem Zweck wurden umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt: Man suchte nach kleinsten Veränderungen im Erbgut, die mit der Veranlagung für Migräne im Zusammenhang stehen könnten. Verlässliche Studien sind in diesem Feld sehr aufwändig, da eine hohe Stichprobenzahl benötigt wird. 2016 erschien eine Veröffentlichung, die die Ergebnisse entsprechender Forschungen an über 375.000 Teilnehmer*innen präsentiert. Nach Analyse der Daten wurden insgesamt 44 Stellen im menschlichen Genom ausgemacht, bei denen kleinste Variationen mit einer Erhöhung des Risikos für eine Migräneerkrankung in Verbindung stehen.
Die Besonderheit von Menschen mit Migräne: Reizverarbeitung
Man kann es sich so vorstellen, dass das Nervensystem von Migränebetroffenen wegen der gesteigerten Reizverarbeitung ständig unter ‚Hochspannung‘ steht. Bei zu schneller oder zu lang anhaltender Reizverarbeitung kann es zu einem Zusammenbruch der Energieversorgung der Nerven kommen. Die Steuerung der Nervenfunktionen entgleist und schmerzauslösende Botenstoffe werden ungehindert freigesetzt – die hämmernden Migränekopfschmerzen stellen sich ein. Die kognitive Besonderheit einer gesteigerten Reizverarbeitung haben viele bedeutende Persönlichkeiten geteilt, die von Migräne betroffen waren, z. B. Pablo Picasso, Richard Wagner und Marie Curie.
Beeinträchtigt die Migräne unsere kognitiven Fähigkeiten?
Der Frage, ob Menschen mit Migräne, die demnach grundsätzlich über eine besondere Leistungsfähigkeit des Gehirns verfügen, während der Migräneattacken eine Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen erfahren, sind in jüngerer Zeit einige Studien gewidmet worden. Weiterhin wird erforscht, ob es für Betroffene auch zwischen den Attacken zu entsprechenden Einschränkungen kommen kann und ob es aufgrund der lebenslangen Dauer der Erkrankung bis ins Alter zu kognitiven Defiziten im Alter kommen könnte.
Forschung mit Fallstricken
Die Antworten auf diese Fragen, denen sich die Forschung stellt, sind nicht zuletzt für die Betroffenen selbst von großem Interesse. Ein Blick in die neueste Forschungsliteratur zeigt aber, dass ganz eindeutige Ergebnisse hier bis heute (noch) nicht zutage gebracht werden konnten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass solche Forschungsfragen zu einem wesentlichen Teil die Selbstwahrnehmung und das individuelle Empfinden der Betroffenen berühren. Wenn in einer Studie nach möglichen Beeinträchtigungen der Kognition durch Migräneattacken gefragt wird, sind die Forscher*innen auf persönliche Aussagen der Betroffenen angewiesen. So wird beispielsweise erhoben, ob die Betroffenen während ihrer Attacken bzw. dazwischen Einschränkungen in ihrer kognitiven Leistung wahrgenommenen haben. Solche Erhebungen sind keine Ergebnisse objektiver Testsysteme, sondern geben Auskunft über die jeweilige Selbstwahrnehmung der Betroffenen. Die Einschränkungen selbst sind damit keineswegs weniger relevant für die Patient*innen, denn die subjektive Wahrnehmung kognitiver Beeinträchtigungen kann großes Gewicht im Leidensdruck der Betroffenen haben. Gleichwohl beschreitet die Forschung bei solchen Fragen einen schwierigen Pfad zwischen naturwissenschaftlicher Exaktheit und Reproduzierbarkeit auf der einen und der individuellen Krankheitsempfindung der Patient*innen auf der anderen Seite.
Kognitive Symptome während der Migräneattacke
Eine umfangreiche Überblicksstudie aus dem Jahr 2019 wertet unterschiedliche Arbeiten aus, die auf mögliche kognitive Einschränkungen während der verschiedenen Phasen einer Migräneattacke eingehen. Laut den Autor*innen lässt sich feststellen, dass kognitive Symptome die herannahende Attacke anzukündigen scheinen. Demnach kommt es dann bei den Betroffenen häufig zu Sprach- und Lesestörungen sowie Konzentrationsschwäche. Überdies berichten sie von weiteren Belastungen wie etwa Niedergeschlagenheit und Angstzuständen. In der akuten Phase der Attacke lassen sich dann z.B. Sprachstörungen und Konzentrationsschwäche ausmachen: Die Patient*innen geben unter anderem eine Verlangsamung ihres Denkens, Orientierungsprobleme im Denken oder Retardierung von Denkprozessen an. Außerdem beschreiben sie, dass sie sich müde, abgeschlagen, kraftlos oder depressiv fühlen. Laut der Studie klingen die Symptome in der Regel mit dem Ende der Attacke ab; diese Beobachtung wird auch durch bildgebende Verfahren gestützt.
Wie sieht es zwischen den Attacken aus?
Bei der episodischen Migräne (≤14 Migränetage pro Monat) normalisiert sich in der Zeit zwischen den Attacken die Kognition der Betroffenen meist wieder. Aufgrund der veränderten Reizverarbeitung kann es dennoch beispielsweise zu einer erhöhten Lichtempfindlichkeit kommen; auch von einer veränderten Schmerzverarbeitung wird berichtet. Im Fall der chronischen Migräne (≥15 Migränetage pro Monat) verkürzen sich oft die Erholungsphasen zwischen den Attacken. Bildgebende Verfahren zeigen, dass die Übererregbarkeit bestimmter Nervenareale zwischen den Attacken nicht ganz zurückgeht, in besonders schweren Fällen sogar bestehen bleibt. Zudem kann sich eine chronische Aktivierung des Trigeminus-Nervs einstellen, die zu einer permanent veränderten Schmerzverarbeitung führt. Das wiederum kann sich auch auf die neuronale Verarbeitung von Gefühlen und auf die Kognition auswirken.
Die Häufigkeit und Dauer der Attacken scheint entscheidend zu sein
Eine Studie von 2017 betrachtet den Zusammenhang kognitiver Beeinträchtigung mit der Dauer und Frequenz von Migräneattacken und stellt fest, dass die durch Chronizität erhöhte Häufigkeit der Attacken negative Auswirkungen auf die Kognition der Betroffenen mit sich bringt. Sie finden signifikante Defizite im Sprach- und Erinnerungsvermögen, bei der sogenannten „kognitiven Kontrolle“ von bewusstem und aufmerksamem Handeln sowie im Rechen- und Orientierungsvermögen. Begleitende elektrophysiologische Untersuchungen (EEG: Elektro-Enzephalogramm) zeigen als mögliches Korrelat erhöhte Latenzzeiten in der neuronalen Verarbeitung und schließen auf eine Retardierung in der Reizleitung und -verarbeitung. Die Effekte korrelieren laut den Forscher*innen signifikant mit der Attackendauer, einige Unteraspekte („kognitive Kontrolle“ und Rechenvermögen) zusätzlich mit deren Frequenz.
Keine nachhaltigen Beeinträchtigungen zu erwarten
Was die Nachhaltigkeit der kognitiven Einschränkungen durch die Migräne betrifft, sind sich die meisten einschlägigen Studien der letzten zehn Jahre einig: Sie sehen keine Anhaltspunkte für einen Zusammenhang zwischen lebenslanger Migräne und kognitiven Defiziten, die sich bei Betroffenen gegenüber nicht Betroffenen im Alter bemerkbar machten (je nach Studie werden Betroffene im Alter über 65 oder über 50 Jahre miteinbezogen). Es bleibt bei all den ernstzunehmenden Einschränkungen der Betroffenen also eine tröstliche Aussicht: Trotz der zum Teil erheblichen, auch kognitiven, Beeinträchtigungen, die Migränebetroffene während ihrer ‚Migräne-Laufbahn‘ vor allem während der Attacken erleben, scheinen diese Ereignisse nicht solche Spuren zu hinterlassen, dass die kognitive Fitness im Alter dadurch beeinträchtigt wird.
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