Präsentismus: Arbeiten mit Kopfschmerz
Präsentismus: Arbeiten mit Kopfschmerz
Der Begriff „Präsentismus“ beschreibt im engeren Sinne das Phänomen, dass Arbeitnehmer:innen trotz Krankheit am Arbeitsplatz erscheinen. Wie verbreitet ist dieses Phänomen und welche Gründe führen dazu, dass wir, statt uns auszuruhen und der nachhaltigen Genesung zu widmen, weiter unserer Erwerbstätigkeit nachgehen – und wie zeigt Präsentismus im Hochschulkontext?
Präsentismus liegt im Trend
In der Umfrage einer großen deutschen Krankenversicherung, die im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, gab mehr als ein Viertel der Beschäftigten an, trotz Erkrankung ihrer Arbeit nachzugehen, und das sogar häufig – sei es im Betrieb oder zuhause. Unter Mitarbeiter:innen mit Führungsverantwortung waren es immerhin noch 16%, die das einräumten. Das Phänomen des Präsentismus lässt sich in Industriegesellschaften seit über zwei Jahrzehnten beobachten, der Trend ist steigend. Beschäftigte im Home-Office sind besonders anfällig: Hier gab fast jeder Zweite an, die Arbeit auch dann zu erledigen, wenn man sich krank fühlt. Mehr als jeder Zehnte arbeitet nach eigener Aussage sogar trotz ärztlicher Krankschreibung. Dabei greifen oftmals gerade diejenigen Beschäftigten, die zuhause arbeiten, zu Medikamenten, um ihrer Arbeit weiter nachgehen zu können.
Präsentismus-Klassiker Kopfschmerz
In den USA, Dänemark und Schweden wurde Präsentismus schon früh als Problem wahrgenommen und wissenschaftlich untersucht, im Fokus der Forschung stehen neben Allergien und orthopädischen Problemen regelmäßig Kopfschmerzerkrankungen. Eine Arbeit von der Universität im schwedischen Norköpping nimmt Mitarbeiter:innen aus zwei sehr unterschiedlichen Settings in den Blick: Einerseits Angestellte eines High-Tech-Unternehmens (Saab-Aerospace) und andererseits Mitarbeiter:innen eines öffentlichen Krankenhauses. Von Kopfschmerzen als Reaktion auf Stress während der vergangenen drei Monate berichteten 64% der Saab-Mitarbeiter:innen, bei den Krankenhausangestellten waren es sogar 78%. Die Selbstauskunft zum Präsentismus fragte, wie viele Mitarbeiter:innen regelmäßig trotz akuter Kopfschmerzen zur Arbeit erscheinen. Aus beiden Gruppen bekannte sich jeder Zweite dazu. Als zweiten Untersuchungsgegenstand sollten die Betroffenen ihre persönliche Einschätzung nennen, wie hoch der Verlust an eigener Arbeits-Effektivität einzustufen ist. In beiden Gruppen lag dieser Wert bei über 20%. Anders ausgedrückt: Die Beeinträchtigung durch Kopfschmerz am Arbeitsplatz schlug pro Quartal als Verlust von mehr als sechs Arbeitstagen zu Buche.
Pflegeberufe sind besonders betroffen
Besonders stark vom Präsentismus und seinen Auswirkungen betroffen sind pflegende Berufe, wie verschiedene Untersuchungen belegen. In Lissabon wurde eine Erhebung unter Pflegepersonal verschiedenster Fachrichtungen in einem als repräsentativ bezeichneten Hospital durchgeführt. Die Fragen bezogen sich zum Beispiel darauf, wie die Mitarbeiter:innen trotz gefühlten Krankseins mit der Arbeitsbelastung umgehen, wie stark sie Stress empfinden oder wieweit es ihnen gelingt, trotz Handicap ihr Pensum zu erledigen. Diejenigen Mitarbeiter:innen, die trotz Krankheit zur Arbeit gingen, nannten Stressempfinden und Angstzustände als wichtigste psychische Belastungsfaktoren. Unter den körperlichen Krankheitsanzeichen wurde neben Rückenbeschwerden und Atemwegserkrankungen die Migräne besonders häufig genannt.
Angst als Präsentismus-Begleiter
Eine Arbeit von 2018 zeigt, dass es auch unter Spannungskopfschmerz-Betroffenen einen deutlichen Trend zu Präsentismus gibt. Um spezifisch herauszufinden, wie es sich für die Betroffenen anfühlt, mit Spannungskopfschmerzen zu arbeiten und welche Belastung dies bedeutet, bedienten sich die Autor:innen der Studie spezieller Messmodelle, mit denen sich gut zwischen mentalen und körperlichen Krankheitsaspekten differenzieren lässt. Bei vielen Mitarbeiter:innen, die trotz Spannungskopfschmerzen arbeiteten, zeigte sich, dass ihre Tätigkeit von Angststörungen begleitet wurde. Hieraus lässt sich folgern, dass akut von Spannungskopfschmerz Betroffene, die trotzdem zur Arbeit erscheinen, oft von der Angst begleitet werden, ihre Tätigkeit nicht effektiv, korrekt und insgesamt zufriedenstellend durchführen zu können.
Ein Artikel im US-amerikanischen „Harvard Business Review“ mit dem Titel „At work – but out of it“ benennt einen weiteren Faktor, der für viele Betroffene entscheidend sein könnte: Erscheint jemand aus Krankheitsgründen nicht im Betrieb, dann bedeutet dies, dass die Arbeit entweder warten muss oder von jemand anderem übernommen wird. Kommt der Mitarbeiter/die Mitarbeiterin aber trotz Erkrankung in den Betrieb, weiß niemand – auch er oder sie selbst nicht mit Sicherheit –, wie der Gesundheitszustand sich auf die Arbeit auswirkt. Es ist erwiesen, dass in solchen Fällen nicht nur mehr Fehler auftreten. Sie sind auch folgenschwerer. Bleiben sie dann noch durch mangelhafte Konzentration unentdeckt, können die Konsequenzen fatal sein.
Präsentismus in der Care-Arbeit
Nicht nur Erwerbsarbeit ist Arbeit. Auch sogenannte Care-Arbeit ist Arbeit, und hier ist Wegbleiben wegen Krankheit oft noch weniger eine Option – nicht nur, weil sonst jemand anders die Arbeit machen müsste oder man sie später nachholen muss, sondern weil Care-Arbeit oft nicht abgegeben oder aufgeschoben werden kann. Wer Angehörige pflegt oder sich um Kinder kümmert, muss seine Aufgaben dann erledigen, wenn sie anfallen. Oft ist hier der Druck besonders hoch, weil eine große Verantwortung auf den Schultern der Betroffenen lastet: die Verantwortung für das Wohlergehen eines anderen Menschen. Der Begriff des Präsentismus sollte daher über die Erwerbsarbeit hinaus ausgeweitet werden, sodass die großen Konsequenzen für alle Betroffenen in den Blick kommen.
Präsentismus an der Uni: Durchhalten trotz Schmerzen
Im Hochschul-Setting ist ein häufiger Grund für Präsentismus bei Studierenden, dass diese befürchten, bei Abwesenheit wichtigen Lernstoff zu verpassen. Da die Inhalte von Vorlesungen oder Seminaren oft aufeinander aufbauen und sich über das Semester hinweg voraussetzungsreiche Themenkomplexe ergeben, haben Studierende Angst, prüfungsrelevanten Stoff nicht mitzubekommen oder später nicht mehr aufholen zu können. Sie gehen auch krank zur Vorlesung. Wo möglich, verfolgen sie die Lehrveranstaltungen gegebenenfalls online, aber auch das ist der Genesung oft nicht dienlich – vor allem nicht bei Kopfschmerzerkrankungen.
Dass akute Kopfschmerzen Studierende häufig nicht davon abhalten, in die Uni zu gehen, konnte in mehreren Erhebungen des Pilotprojekts „KopfHoch – Kopfschmerz & Migräne an der Hochschule kompetent vorbeugen“ der ZIES gGmbH gezeigt werden. Demnach beschreiben zwei Drittel der Studierenden mit Kopfschmerz, dass sie versuchen, ihren Alltag trotz der Schmerzen durchzustehen. Über die Hälfte der Studierenden, deren Kopfschmerz Migränemerkmale aufweist und mehr als zwei Drittel mit Kopfschmerz mit Merkmalen vom Spannungskopfschmerz geben an, in den letzten drei Monaten trotz bestehender Beschwerden an keinem Vorlesungstag in der Hochschule gefehlt zu haben. Es zeigt sich außerdem eine starke Korrelation mit einer hohen Einnahme von Schmerzmedikamenten, in den meisten Fällen in Eigenregie, d. h. ohne ärztliche Verordnung und Begleitung. Bei den Betroffenen mit Merkmalen der Migräne haben außerdem fast 10% angegeben, schon einmal versucht zu haben, Drogen gegen ihre Kopfschmerzen einzunehmen.
Schmerzen ernst nehmen und ihnen vorbeugen
Es klingt einfacher, als es in der Realität oft ist: Wer akut erkrankt ist, sollte sich auskurieren. Bei Kopfschmerzerkrankungen, insbesondere bei Migräne, ist erwiesen, dass sie schlimmer werden können, wenn man trotzdem mit dem Alltag weitermacht: Migräneattacken werden, wenn sich Betroffene nicht zurückziehen, oft stärker und halten zudem länger an. Wer besonders morgens an Attacken leidet, die nicht länger als ein paar Stunden andauern, ist oft nachmittags wieder einsatzbereit, wenn er sich am Vormittag wirklich ausgeruht hat. Wer sich aber mit einer morgendlichen Migräneattacke in die Hochschule schleppt, riskiert, dass die Attacke länger andauert und stärker ausfällt. Zudem sind Betroffene während der Attacken kaum aufnahmefähig. Die Lerninhalte, die man nicht verpassen wollte, als man trotzdem die Lehrveranstaltung besucht hat, werden sich entsprechend kaum nachhaltig setzen. An allen Hochschulen gibt es Behindertenbeauftragte, an die man sich wenden kann, um etwaige Nachteile auszugleichen, die einem durch die Migräneerkrankung entstehen.
Wer Kopfschmerzen zu häufig mit Medikamenten begegnet, setzt sich dem Risiko aus, einen Medikamentenübergebrauchskopfschmerz zu entwickeln (mehr dazu in diesem Artikel). Der nachhaltigste Ansatz, Kopfschmerzen zu begegnen, ist effektive Prävention. Wer seine Kopfschmerzart kennt, seine persönlichen Auslöser herausfindet und es schafft, im Alltag präventives Verhalten umzusetzen, kann Schmerzen oft zuvorkommen.
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Literatur
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abgerufen am 18.2.2024
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