Schwindel – ein Zeichen für Migräne?
Schwindel – ein Zeichen für Migräne?
„ ... Ich acht, dass es der schwarze zottich Geselle aus der Höllen gewest, der mich in seinem Reich auf Erden nicht wohl leiden mag ... “ äußerte Martin Luther zu seiner wiederkehrenden Schwindelerkrankung. Aus heutiger Sicht handelte es sich um eine Erkrankung, die medizinisch erstmals durch Prosper Menière im Jahr 1862 beschrieben wurde.
Bereits der Erstbeschreiber dieser ohrenheilkundlichen Erkrankung merkte an, dass bei vielen Betroffenen auch eine Migräne diagnostiziert wurde. Wissenschaftlich wurde das Auftreten von Schwindel im Kontext einer Migräneerkrankung erst in den letzten Jahren genauer betrachtet. Im klinischen Alltag wird das Symptom Schwindel oftmals nicht exakt eingeordnet. In einer Studie wurde festgestellt, dass nur 10% der Betroffenen eine korrekte Diagnose erhalten.
Die neueren wissenschaftlichen Studien belegen, dass bei sogenannten Menière-Patienten Migräne häufiger vorkommt als bei Mitgliedern gesunder Vergleichsgruppen. Migräne und Morbus Menière können als sogenannter Symptom-Cluster gemeinsam vererbt werden.
Die vestibuläre Migräne
Aber auch unabhängig von einem Morbus Menière tritt Schwindel in Zusammenhang mit einer Migräneerkrankung auf. Man spricht dann von der sogenannten vestibulären Migräne. In der internationalen Klassifikation der Kopfschmerzerkrankungen findet diese Erkrankung unter A1.6.6 Berücksichtigung. Diese Schwindelereignisse (es handelt sich nicht um eine Aura) treten oftmals Jahre nach der ersten Kopfschmerzsymptomatik auf und grenzen sich vom Morbus Menière dadurch ab, dass keine fortschreitende Schädigung der Hörfähigkeit festzustellen ist. Unter Anwendung der diagnostischen Kriterien konnte festgestellt werden, dass ca. 1% der Bevölkerung von einer vestibulären Migräne betroffen ist.
Patienten mit vestibulärer Migräne beschreiben vergleichbare Triggerfaktoren für Kopfschmerz und Schwindel. Oftmals tritt der Schwindel auf, ohne dass er von Kopfschmerzen begleitet wird. Das Schwindelgefühl kann durch einen Wechsel der Körperposition, Bewegung oder eine Veränderung der Blickrichtung verstärkt werden. Beschrieben wird ein Drehschwindel (Karussell) wie auch ein Schwankschwindel (Schiff) oder eine Gang- und Standunsicherheit. Betroffene fühlen sich „wie betrunken“, „seekrank“ oder als ob sie gerade aus einer Achterbahn aussteigen. Bei etwas einem Drittel hält das Symptom einige Minuten an, bei jeweils einem weiteren Drittel der Betroffenen einige Stunden oder Tage. Die restlichen 10% leiden unter einem Dauerschwindel schwankender Ausprägung.
Auch wenn es keinen spezifischen Test gibt, der eine vestibuläre Migräne zweifelsfrei beweist, ist es dennoch erforderlich, eine neurologische und HNO-ärztliche Untersuchung durchführen zu lassen. So können andere, teils auch ernsthafte, Erkrankungen ausgeschlossen werden. Hilfreiche Untersuchungen sind der Videokopfimpulstest und ein Hörtest, welcher das Unterscheidungsvermögen bei der Wahrnehmung von Sprache untersucht. Dies hilft insbesondere bei der Abgrenzung zum Morbus Menière. Letztlich bleibt die vestibuläre Migräne jedoch eine Erkrankung, die wesentlich aufgrund der Anamnese diagnostiziert wird.
Der Schwindel entsteht im Rahmen einer vestibulären Migräne vermutlich über den gleichen Mechanismus wie die Kopfschmerzen. Man hat hier vor allem das sogenannte trigeminovaskuläre System im Blick. Der Hirnnerv „Trigeminus“ beeinflusst die Entstehung des Kopfschmerzes bei der Migräne und innerviert den Blutgefäße des Gleichgewichtsorgans. Die schmerzverarbeitenden Regionen des Hirnstamms stehen bekannterweise in Verbindung mit dem Gleichgewichtssystem, aber auch dem trigeminovaskulären System. Man vermutet daher, dass bei der Entstehung des Schwindels im Rahmen einer vestibulären Migräne eine wechselseitige Beeinflussung unterschiedlicher Hirnregionen stattfindet.
Schwindel kann auch als Folge einer anderen Form der Migräneerkrankung auftreten. In solchen Fällen kommen allerdings noch weitere Symptome, wie z.B. Sprachstörungen, hinzu.
Diagnostische Kriterien der International Headache Society zur vestibulären Migräne:
A. Mindestens fünf Episoden, die die Kriterien C und D erfüllen
B. Eine aktuelle Geschichte oder Vorgeschichte einer 1.1 Migräne ohne Aura oder 1.2 Migräne mit Aura
C. Vestibuläre Symptome von mittelstarker oder starker Intensität mit einer Dauer zwischen 5 Minuten und 72 Stunden
D. Mindestens die Hälfte der Episoden tritt in Begleitung von wenigstens einem der folgenden drei migränösen Merkmale
1. Kopfschmerz mit mindestens zwei der folgenden vier Charakteristika:
a) einseitig lokalisiert
b) pulsierend
c) mittelschwere oder schwere Intensität
d) Verschlechterung durch körperliche Routineaktivitäten
2. Photophobie und Phonophobie
3. visuelle Aura
E. Nicht besser erklärt durch eine andere ICHD-3-Diagnose oder durch eine andere vestibuläre Störung.
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Literatur
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