Die Stigmatisierung von Migränebetroffenen
„Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat.“ – Zur Stigmatisierung von Migränebetroffenen
Eine Migräneerkrankung ist für Betroffene eine starke Belastung, sie bedeutet große Einschränkungen in vielen Lebensbereichen. Hinzu kommen Vorurteile über die Migräne als „Kopfschmerzen, auch wenn man gar keine hat“, wie es schon vor bald 100 Jahren in Erich Kästners „Pünktchen und Anton“ hieß. Eine neue Studie hat untersucht, wie Migräne-Patient:innen die Auswirkungen ihrer Erkrankung auf das private Leben und den Beruf erleben und wie sie die Wahrnehmung durch andere Menschen beschreiben.
Europaweite Umfrage erhebt das Erleben der Betroffenen
Die „Europäische Migräne- und Kopfschmerzallianz (EMHA)“ hat unter Mitwirkung weiterer Institutionen kürzlich eine groß angelegte Umfrage zu den Auswirkungen einer Migräneerkrankung für die Betroffenen durchgeführt. Befragt wurden mehr als 4.200 Menschen in 17 europäischen Ländern. Dabei nahm man sowohl das Berufsleben der Patient:innen als auch persönliche und zwischenmenschliche Bereiche wie Alltagsgestaltung, Familie, Freundeskreis und andere soziale Umfelder in den Blick. Die zentrale Frage war: Wie fühlen sich Mirgänepatient:innen von ihrer Umwelt wahrgenommen und was macht das mit ihnen?
Auswirkungen auf das Berufsleben
Mehr als 60% der Befragten gaben an, ihre Erkrankung habe Auswirkungen darauf, wie ihr/e Arbeitgeber:in ihre persönliche Leistung am Arbeitsplatz bewertet. Diese Einschätzung veranlasst sogar 43% der Betroffenen – also fast die Hälfte – dazu, ihre Migräneerkrankung auf der Arbeit zu verschweigen. Offenbar tun sie das aus Angst vor Stigmatisierung. Sie geben an, dass ihre Erkrankung häufig nicht ernstgenommen werde, weshalb sie diese im Kolleg:innenkreis lieber nicht thematisierten. Gleichzeitig räumen viele Patient:innen ein, ihr Arbeitspensum oft nur unter Schwierigkeiten bewältigen zu können. Unter den Beschäftigten, die in Teilzeit arbeiten, bezeichnen 80% die Migräne als Hemmschuh für ihr berufliches Vorankommen.
Mit Migräne beim Arzt gut aufgehoben?
Dass es unter dem Personal im Gesundheitswesen ein besseres Bewusstsein für die Migräneerkrankten und ihre Situation gäbe, ist laut der Umfrage nicht unbedingt der Fall. Betroffene berichten häufig darüber, dass Ärzt:innen und anderes medizinisches Personal nicht ausreichend über Migräne Bescheid wissen. Viele befragte Patient:innen beschreiben, dass sie sich in ihrer Leidens-Situation nicht ausreichend wahrgenommen fühlen. Das Gespräch mit der/m behandelnden Ärzt:in wird als unangenehm empfunden, weil sie sich aufgefordert sehen, selbst nachweisen zu müssen, welches Leid ihre Erkrankung verursacht. Dies hat zur Folge, dass 35% der Patient:innen einen Arztbesuch vermeiden oder hinauszögern. Drei Viertel der Befragten sehen sich auch hier nicht gebührend ernstgenommen. Peter Goadsby vom Londoner „King’s College“, Migräne-Experte und Mitinitiator der Untersuchung, sagt, diese Ergebnisse sollten ein „Weckruf“ für alle sein, die seitens der Medizin mit Migränebetroffenen zu tun haben. Das Bedürfnis der Betroffenen, in ihrer Erkrankung ernstgenommen zu werden, sei berechtigt, das behandelnde Gegenüber müsse dem entgegenkommen.
Betroffene sehen sich mit Vorurteilen konfrontiert
Stereotype von Menschen mit Migräne sind weit verbreitet, Betroffene sehen sich in vielen Lebensbereichen mit Vorurteilen konfrontiert. Einer Bagatellisierung des Leids und der Einschränkungen, die mit der Migräne verbunden sind, sind Frauen besonders häufig ausgesetzt, weil sie häufiger unter Migräne leiden als Männer. Unter Kolleg:innen und im Bekanntenkreis werden mitunter geschlechts-spezifische Zuschreibungen gemacht, Betroffene berichten von Formen der Herabsetzung, die bis hin zu sexistischen Entgleisungen führen können. Auch wird im Zusammenhang mit einer Migräneerkrankung oft eine „psychische Instabilität“ als Kofaktor unterstellt, was zur persönlichen Abwertung und Kränkung der Betroffenen beiträgt. Häufig überliefert sind Kommentare mit Wortlauten wie Migräne sei „doch nur ein Kopfschmerz“ oder „ein guter Vorwand, weniger zu arbeiten“. Hieran zeigt sich, wie stark alte Vorurteile über die Migräne noch immer im Bewusstsein vieler Menschen verankert sind und auch, wie groß die Rolle von Gender-Stereotypen ist.
Stigmatisierung in der Selbstwahrnehmung
Die Stigmatisierung wird von den Betroffenen oft internalisiert, was heißt, dass die falschen Zuschreibungen zum Bestandteil der Selbstwahrnehmung werden. Migräne-Patient:innen erleben sich selbst als weniger leistungsfähig als andere oder gar als inkompetent. Die Selbstachtung wird gemindert und Betroffene trauen es sich nicht zu, Verantwortung oder leitende Positionen in Beruf oder gesellschaftlichem Engagement zu übernehmen. Die Folge ist oft ein Rückzug ins Private, der aufgrund des mangelnden Selbstvertrauens nur schwer wieder umzukehren ist.
Was muss sich ändern?
Adäquate ärztliche Ausbildung
Migräne ist eine komplexe neurologische Erkrankung mit vielfältigen persönlichen Folgen. Der Umgang mit Migräne und den Betroffenen muss überdacht und grundlegend verändert werden. Ein sensibler, respektvoller Umgang durch andere ist die Basis für ein gelingendes Leben mit dieser Belastung. Das beginnt zuerst bei allen, die durch ihren Beruf die fachliche Verantwortung für Migränebetroffene haben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigt beispielsweise in einer Erhebung, dass in drei Vierteln der von ihr untersuchten Länder eine fundierte Ausbildung des medizinischen Personals mit Blick auf die häufigsten Kopfschmerzerkrankungen nicht so gewährleistet ist, wie es notwendig wäre, um Betroffenen adäquat zu begegnen. Im Angesicht der hohen Prävalenz dieser Kopfschmerzerkrankungen ist das ein großes Problem, das unzählige Menschen betrifft.
Vertrauensvolles Patientenverhältnis
Das internalisierte Stigma ist der Faktor, der die Betroffenen am stärksten davon abhält, sich qualifizierte Hilfe zu suchen. Das ausschlaggebende Gefühl ist dabei die Angst, mit seinen Beschwerden nicht ernstgenommen zu werden. Das lässt sich nur ändern, wenn es gelingt, ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Patient:in und Behandler:in herzustellen. Nur so kann angstfrei in gemeinsamer Anstrengung die bestmögliche Behandlung entwickelt werden. Auch gilt es, den Betroffenen dabei zu helfen, sich selbst und die Erkrankung nicht als Belastung anderer wahrzunehmen oder sich gar eine eigene Schuld daran zuzuschreiben.
Veränderungen am Arbeitsplatz
Am Arbeitsplatz, wo Stigmatisierung und Ausgrenzung als besonders belastend empfunden werden, gilt es, Betroffenen mit Respekt und Aufmerksamkeit zu begegnen. Der Arbeitsplatz sollte nicht nur in menschlicher Hinsicht, sondern auch ganz praktisch ‚migräne-freundlich‘ gestaltet werden, damit Gefährdungen und Migräne-Auslöser wo möglich vermieden werden. Konkret bedeutet dies zum Beispiel, stark wechselnde Lichtverhältnisse zu vermeiden, Lärm und Gerüche möglichst zu mindern, regelmäßige Pausen und Erholungsphasen zu ermöglichen oder auch eine gute Qualität der Raumluft zu schaffen. Und weil für Migränebetroffene die gleichmäßige Energiezufuhr im Gehirn unerlässlich ist, sollten die Rahmenbedingungen für regelmäßige Mahlzeiten geschaffen werden. Hinzu kommt eine möglichst flexible Gestaltung von Arbeitszeit und -ort, was die Entstehung von Stress und Zeitdruck verringern kann und nach einer Migräneattacke auch einen Arbeitseinstieg am Nachmittag ermöglicht . Und nicht zuletzt ist es der achtsame Umgang miteinander, der Betroffene vor belastungsabhängigen Migräne-Attacken schützt.
Umdenken in der öffentlichen Wahrnehmung
Schließlich können auch Medien und Öffentlichkeit einen großen Beitrag zur Reduzierung der Stigmatisierung leisten, indem sie darauf verzichten, gängige Migräne-Stereotype zu bedienen und durch eine Trivialisierung der Krankheit noch zu erhärten. Vielmehr sollten die Patient:innen dazu ermutigt werden, Verständnis für ihre Situation und eine adäquate Behandlung einzufordern. Eine solche offensive Resilienz kann Scham und Selbstzweifel nachhaltig verdrängen.
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Literatur
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