Von der Aura zur Attacke: Neueste Erkenntnisse zum Trigeminusnerv
Von der Aura zur Attacke: Neueste Erkenntnisse zum Trigeminusnerv
Bis zu zehn Prozent aller Migränepatient:innen kennen das Phänomen der „Aura“. Mit diesem Wort haben die alten Griechen einen kalten Lufthauch beschrieben, heute benutzt ihn die Medizin für neurologische Störungen, die einer Migräneattacke vorangehen können.
Ganz aktuell ist es einem Forscher:innenteam aus Kopenhagen gelungen, die maßgeblichen Mechanismen zu enträtseln, die den Vorgängen zwischen Aura und Migräneattacke zugrunde liegen. Dabei wurde auch ein lange geltender Lehrsatz aus der medizinischen Wissenschaft hinterfragt.
Wie sieht eine Aura aus?
Migränebetroffene können ihre Aura sehr unterschiedlich wahrnehmen. Typische neurologische Störungen, die im Rahmen einer Aura auftreten, sind zum Beispiel:
Sehstörungen sind das häufigste Aura-Phänomen. Oft tritt die Sehstörung in Form eines sogenannten „Fortifikationsspektrums“ auf, einer sternförmigen Figur im Blickfeld. Die Zick-Zack-Figur dehnt sich allmählich zur einen oder anderen Seite des Blickfelds aus und hinterlässt in ihrem Zentrum einen blinden Fleck (ein sogenanntes „Skotom“). Ein Skotom kann auch allein, d.h. ohne zusätzliche andere visuelle Phänomene auftreten. Betroffene beschreiben dann einen blinden Fleck in ihrem Sehfeld, der sich allmählich vergrößert.
Sensibilitätsstörungen, zum Beispiel in Form von nadelstichartigen Missempfindungen auf der Körperoberfläche, sind das zweithäufigste Aura-Phänomen. Auch sie befallen erst einen bestimmten Körperbereich und breiten sich dann allmählich aus. Manchmal ist ein Teil des Gesichts betroffenen, manchmal eine ganze Körperseite. Im Zentrum der Sensibilitätsstörung entwickelt sich ein tauber Bereich. Als taub empfundene Bereiche können aber auch allein auftreten.
Sprachstörungen und motorische Schwäche. Sprachstörungen sind ein seltenes Aura-Phänomen. Betroffene haben Schwierigkeiten, Wörter korrekt auszusprechen („Dysphasie“). Auch eine einseitige motorische Schwäche kommt selten vor.
Bis auf sehr wenige Ausnahmefälle klingen die Aura-Symptome mit der Migräneattacke vollständig ab.
Exkurs: Der Nervus trigeminus
Der Nervus trigeminus ist der fünfte der sogenannten Hirnnerven. Er besitzt sensible (für die Wahrnehmung zuständige) und motorische (für die Steuerung zuständige) Nervenfasern. Sein Name rührt daher, dass er in drei Hauptäste geteilt ist (lat. trigeminus: dreifach, Drilling). Die drei Äste innervieren die Augen sowie Ober- und Unterkiefer.
Als Hirnnerven bezeichnet man diejenigen Nerven, deren Fasern direkt aus dem Gehirn hervorgehen bzw. in das Gehirn einstrahlen. Die meisten Hirnnerven stehen mit spezialisierten Ansammlungen von Nervenzellen, den Hirnnervenkernen im Hirnstamm, in Verbindung. Hirnnerven besitzen immer mindestens eine Durchtrittstelle innerhalb der knöchernen Struktur des Schädels. Das sogenannte Ganglion trigeminale innerhalb des Schädels bildet die Teilungsstelle des Nervus trigeminus. Ein Ganglion ist ein Knotenpunkt im Nervensystem in Form einer Ansammlung von Nervenzellkörpern, die eine kleine Verdickung bilden („Nervenknoten“). Ganglien fungieren als Schaltzentrale im Nervensystem.
Der Trigeminusnerv ist zentral für das Migränegeschehen
Dass der Trigeminusnerv eine zentrale Rolle bei der Entstehung von Migräneattacken spielen könnte, nimmt die medizinische Forschung schon länger an, die genauen zugrunde liegenden Mechanismen und Abläufe lagen bisher aber weitestgehend im Dunkeln. Die dänische Neurobiologin Maiken Nedergaard und ihr Team konnten nun ganz aktuell diesen Zusammenhang in einer umfangreichen experimentellen Arbeit aufklären. (Das Team hatte bereits in den frühen 2010er Jahren mit der Entdeckung des glymphatischen Systems, das zur nächtlichen Hirnreinigung dient, größere Bekanntheit erlangt, siehe dazu diesen Artikel.)
Die Forschung geht heute davon aus, dass es, wenn eine Migräneattacke entsteht, zu einer wellenartigen Erregung in der Hirnrinde (Cortex) der Betroffenen kommt. Dieses Phänomen wird „cortical spreading depression“ (CSD) genannt (übersetzt: SD, „Streudepolarisierung“). Ausgangspunkt für die neue Erklärung zum Ablauf der Entstehung einer Migräneattacke ist die Beobachtung der Wissenschaftler:innen, dass die Flüssigkeit, die im Gehirn für den Abtransport schädlicher Stoffe zuständig ist (der „Liquor“, genauer: CSF, „Zerebrospinal-Flüssigkeit“), nach der Erregungswelle im Gehirn, von der die Migräneattacke eingeleitet wird, eine andere stoffliche Zusammensetzung hat als vorher. Hieraus könnten sich wertvolle Erkenntnisse darüber gewinnen lassen, welche Stoffe für die Entstehung der Streudepolarisierung mitverantwortlich sind – so der Ansatz der Forscher:innen.
Der Fokus der Untersuchung lag auf bestimmten Proteinbestandteilen im Liquor, von denen vermutet wird, dass sie spezielle Rezeptoren des für die Migräne so zentralen Trigeminusnervs aktivieren können.
„CGRP“: Ein potentes Peptid
Eine maßgebliche Rolle wird hier seit einer Weile dem sogenannten „Calcitonin Gene-Related Peptide“ (CGRP) zugeschrieben. Ein Peptid ist ein Molekül, in dem einzelne Aminosäuren in einer bestimmten Reihenfolge (Sequenz) zu einer Kette verbunden sind. Ketten von mehr als ca. 100 Aminosäuren werden als Eiweiße oder auch Proteine bezeichnet. Man kann Peptide also als kurze Proteine ansehen.
CGRP ist ein Neuropeptid aus 37 Aminosäuren. Es kommt vor allem im zentralen Nervensystem, aber zum Beispiel auch in Nervenenden am Herzen vor. Die Substanz gehört zu den besonders starken Blutgefäß-erweiternden Stoffen. Darüber hinaus wirkt sie auch bei der Steuerung von Entzündungsprozessen mit.
Obwohl es inzwischen eine große Zahl von wissenschaftlichen Untersuchungen gibt, die das CGRP für zentral bei der Entstehung von Migräneattacken halten, sind die genauen Mechanismen seiner Freisetzung und Wirkung noch lange Gegenstand bloßer Spekulation gewesen. Was fehlte, waren genaue Kenntnisse darüber, auf welchem Weg sich das Peptid in das Migränegeschehen einschaltet. Nedergaard und ihre Mitarbeiter:innen konnten dieses Rätsel durch eine Reihe von raffinierten Experimenten seiner Lösung ein großes Stück näherbringen. Mithilfe von Kontrastmitteln und der sogenannten Funktionellen Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) entschlüsselten die Wissenschaftler:innen den Weg, den das CGRP nimmt, bevor es seine Wirkung als Auslöser der Attacken entfaltet.
Welche Route nimmt das CGRP?
Die Abfolge der Ereignisse sieht demnach so aus:
- Die Streudepolarisierung passiert den visuellen Cortex (die „Sehrinde“) des Großhirns.
- Trigeminus-aktivierende Substanzen, darunter CGRP, und weitere Substanzen, die die Schmerzentstehung und -empfindung beeinflussen, werden in großer Menge hergestellt und in die Hirnflüssigkeit (Liquor) ausgeschüttet.
- Durch das glymphatische System werden sie in Richtung Trigeminusnerv gespült. Treibende Kraft sind dabei die pulsierenden Bewegungen der Blutgefäßwände.
- Der Liquor gelangt schließlich bis zum Ganglion des Trigeminus.
An dieser Stelle nun vollzieht sich ein bemerkenswerter Vorgang, der – wie erwähnt –, wenn er so stattfindet, wie von den dänischen Wissenschaftler:innen vermutet, einen alten Lehrsatz der Neurologie infrage stellt. Herrschende Lehrmeinung war bisher, dass das zentrale Nervensystem (ZNS) gegenüber dem peripheren (weiter von ZNS entfernten, den restlichen Körper versorgenden) Nervengewebe hermetisch abgeschirmt ist. Man nahm an, dass dies den Zweck habe, das ZNS vor giftigen Stoffen, Infektionen und anderen Gefährdungen zu schützen.
Was Nedergaard und Kolleg:innen nun aber zeigen konnten, ist, dass es einen kleinen Bereich an der Wurzel des Drillingsnervs gibt, für den diese absolute Isolierung nicht gilt: Entgegen allen bisherigen Annahmen findet sich dort ein kleiner Hohlraum mit einer durchlässigen Membran. Die Hirnflüssigkeit kann diese „trigeminale Lücke“ ungehindert passieren, ihre Fracht, darunter die Attacken-auslösenden Stoffe wie CGRP, einschleusen und anschließend bis zum Ganglion in der Trigeminus-Wurzel (und damit in das ZNS) transportieren. Dort wird schließlich der letzte Schritt in der Kaskade der migräneauslösenden Ereignisse in Gang gesetzt:
- Der Trigeminusnerv wird aktiviert und es entstehen die migränetypischen Schmerzsignale.
Die Eigenheiten des Migränekopfschmerzes
Mit dieser neuen Herleitung lassen sich zwei Besonderheiten des Migränekopfschmerzes erklären:
1) Warum die Aura (zum Zeitpunkt der Streudepolarisierung) und der Beginn des Schmerzereignisses, d.h. die eigentliche Migräne-Attacke, zeitlich versetzt sind, nämlich wegen der Zeit, die für den Transport der Substanzen zum Trigeminusnerv benötigt wird. Diese Zeitspanne ist vermutlich nicht einheitlich und kann sich sowohl bei einzelnen Betroffenen zwischen ihren verschiedenen Attacken unterscheiden als auch zwischen unterschiedlichen Betroffenen.
2) Warum Migränekopfschmerz einseitig empfunden wird, nämlich weil die Bildung und Ansammlung der schmerzauslösenden Stoffe ipsilateral, d.h. nur auf der Seite von Gehirn und Kopf stattfinden, wo später auch der Schmerz auftritt. Migränekopfschmerzen werden also auf der Seite empfunden, über die die Streudepolarisation hinwegging und auf der die entsprechenden Substanzen gebildet wurden.
Neue Hoffnung durch neue Befunde?
Wie immer, wenn die Wissenschaft neue Erkenntnisse liefert, ergibt sich die Frage, was daraus weiter folgen könnte. Man weiß nun zum ersten Mal in der langen Geschichte der Erforschung der Migräne sehr genau, wie die Abfolge der Ereignisse bei der Entstehung einer Migräneattacke aussieht. Hieraus könnten sich in der Zukunft Forschungsansätze ableiten, die im Idealfall einen Eingriff in die Abläufe erlauben und damit viele Migräneattacken verhindern.
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Literatur
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Kaag Rasmussen M, Møllgård K, Bork PAR, Weikop P, Esmail T, Drici L, Wewer Albrechtsen NJ, Carlsen JF, Huynh NPT, Ghitani N, Mann M, Goldman SA, Mori Y, Chesler AT, Nedergaard M. Trigeminal ganglion neurons are directly activated by influx of CSF solutes in a migraine model. Science. 2024 Jul 5;385(6704):80-86. doi: 10.1126/science.adl0544.
Göbel H. (2012): Migräne: Diagnostik - Therapie – Prävention. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag, S.28; S. 68-67. Epub 2024 Jul 4. PMID: 38963846.
Göbel H (2020) Erfolgreich gegen Kopfschmerzen und Migräne. Heidelberg: Springer-Verlag, ISBN : 978-3-662-61687-1
https://www.pschyrembel.de/Ganglion%20trigeminale/K08F9 aufgerufen am 29.8.2024
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