Was passiert bei einer Migräneattacke im Gehirn?
Was passiert bei einer Migräneattacke im Gehirn?
Migräne ist eine neurologische Erkrankung, unter der weltweit Millionen von Menschen leiden. Die jahrhundertealte Forschung zu diesem komplexen Krankheitsbild fördert laufend neue Hypothesen zutage, vor allem in den letzten Jahrzehnten konnten einige entscheidende Erkenntnisse gewonnen werden. So weiß man beispielsweise inzwischen, dass die Migräne eine genetische Grundlage hat und ihre Entstehung durch eine Reihe von Erbfaktoren begünstigt wird. Wie genau es aber zu der spezifischen Ausprägung dieser besonderen Kopfschmerzerkrankung kommt und welche Wirkmechanismen dabei eine Rolle spielen, liegt teilweise trotz intensiver Forschung weiter im Dunkeln. Wir stellen hier dar, wo die aktuellen Forschungsschwerpunkte zu der Frage liegen, was während einer Migräneattacke genau im Gehirn passiert.
Erregungswelle im Gehirn
Eine Reihe von neueren Publikationen nimmt die genauen Vorgänge unter die Lupe, die an einer Migräneattacke mit Aura beteiligt sind. Als gesichert gilt inzwischen, dass für das Schmerzgeschehen bestimmte sensorische Innervierungen der Hirnhäute eine wichtige Rolle spielen. In früheren Forschungen wurde ein Phänomen entdeckt, bei dem es in der Großhirnrinde (dem sogenannten Kortex) im Vorfeld einer Migräneattacke zu einer wellenartigen Nervenerregung kommt: Bei der „Kortikalen Streudepolarisierung“ (englisch „Cortical Spreading Depression“) handelt es sich um ein neurologisches Phänomen, das sich langsam über die betroffene Hirnrinde ausbreitet. Beschrieben wurde es erstmals 1944 durch den brasilianischen Wissenschaftler Aristides P. Leão, aber es brauchte Jahrzehnte der Forschung, bis die tatsächliche Existenz dieses Vorgangs – unter anderem im Zuge der Entwicklung leistungsfähiger Messverfahren – bestätigt werden konnte.
Direkter Zusammenhang mit der Migräneattacke
Bei solchen wandernden Erregungswellen ‚feuern‘ große Mengen an Nervenzellen gleichzeitig – ein Geschehen, das ungeheuer viel Energie verbraucht. Möglicherweise liegt hierin der Grund dafür, dass es nach einem solchen Ereignis zu einer vorübergehenden Verminderung der Aktivität der Synapsen, also der Signalübertragung, kommt – das Gehirn befindet sich für eine Weile im Erschöpfungszustand. In diesem Zusammenhang ist auch eine Minderversorgung des Gehirngewebes mit Sauerstoff beschrieben, die seit langem als Auslöser von Migräneattacken bekannt ist. Man nimmt heute an, dass es eine direkte Verbindung zwischen diesem Ereignis der sich ausbreitenden Erregungswellen und dem Migränegeschehen gibt. Die enge Verknüpfung der Hirnhaut-Nerven mit den Bereichen, in denen die Depolarisierung stattfindet, wird dabei als Übertragungsweg angenommen.
Hohe Aktivität der Nervenzellen
Man vermutet, dass bei Migränebetroffenen genau diese Hirnhaut-Nerven eine besonders hohe Aktivität aufweisen. Darüber hinaus ist sich die Wissenschaft einig darüber, dass die Nervenzellen in der Hirnrinde von Migränepatient*innen besonders leicht erregbar sind und eine gesteigerte Reizverarbeitung besitzen. Diese sogenannte Hypererregbarkeit wurde in zahlreichen Untersuchungen beschrieben. Bei einer Untergruppe von Patient*innen, so nimmt man an, führt dieser Zustand zu der oben beschriebenen wandernden Erregungswelle und setzt den verhängnisvollen Mechanismus in Richtung Migräneattacke in Gang.
Die Aura und die Attacke
Der oftmals enge zeitliche Zusammenhang zwischen der Migräneaura und dem Beginn der eigentlichen Migräneattacke führte Wissenschaftler*innen bereits vor beinahe 40 Jahren zu der Annahme, dass es eine enge Verbindung zwischen Aura- und Schmerzphasen geben müsse. Seitdem wurde eine große Zahl an Studien über den Zusammenhang zwischen Erregungswelle, Aura und Schmerzgeschehen durchgeführt. Heute geht man davon aus, dass die Aura der Phase der wellenartigen Nervenerregung im Vorfeld der Migräneattacke zuzuordnen ist. In dem Fall nämlich, in dem die langsame Ausbreitung der Welle das Sehzentrum miteinbezieht, kann es zu den optischen Trugbildern und Verzerrungen (sogenannten „Flimmerskotomen“) kommen, die während einer Migräneaura zu beobachten sind.
Was genau passiert in der Phase der Erregungswelle?
Während der Erregungswelle in der Hirnrinde kommt es zur Freisetzung unzähliger Botenstoffe aus den Zellen des Hirngewebes. Darunter sind etliche Substanzen, die das Schmerzempfinden beeinflussen können. Eine Forschungshypothese geht davon aus, dass diese sogenannten Mediatoren aus dem Gewebe in Richtung der Hirnhäute in den betroffenen Regionen diffundieren. Dort lösen sie an nahegelegenen Nervenendigungen eine Schmerzwahrnehmung aus. Die Nerven ihrerseits reagieren mit der Sezernierung von entzündungsfördernden Stoffen, wodurch sogenannte neurogene Entzündungen verursacht werden. Auch dabei werden schmerzaktive Moleküle frei, wodurch sich Schmerzdauer und -empfindlichkeit erhöhen.
Ein weiterer Befund betrifft die Durchblutung im Gehirn und damit auch das Thema Sauerstoffversorgung, die im Nervengewebe besonders wichtig ist. Speziell bei Migräne mit Aura kommt es während der Kortikalen Erregungswelle zur Beeinträchtigung der Durchblutung einzelner Hirnareale. Dies führt zu einer Minderversorgung mit Sauerstoff. Der entstehende Mangel wiederum kann seinerseits eine Migräneattacke verursachen – es kann so zu einem klassischen Teufelskreis kommen.
Die Migräne: Weiterhin eine ‚harte Nuss‘ für die Wissenschaft
Man könnte noch viele weitere Einzelbefunde aufzählen, die vermutlich am Migränegeschehen beteiligt sind. Die eigentliche Kunst der Wissenschaft besteht nun darin, die ungeheure Menge an Einzelbefunden und Forschungsergebnissen zu einem konsistenten Gesamtbild zusammenzufügen. Nur so kann man die grundlegenden neuronalen Prozesse, die der Migräne zugrunde liegen, in einem umfassenden Denkmodell erklären. Dieses Gesamtkonzept sollte es außerdem ermöglichen, Erklärungen für die verschiedenen Formen der Migräne (z.B. mit oder ohne Aura) zu liefern. Bei einem Krankheitsbild, an dem so viele verschiedene Faktoren beteiligt sind, ist es eine Mammutaufgabe der Wissenschaft, eine solche Gesamtsicht zu entwickeln. Wir werden unsere Leser*innen auf dem Weg dorthin mit den neuesten Forschungsergebnissen zum aktuellen Stand der Wissenschaft versorgen.
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Literatur
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Aristides P. Leão (1944). Spreading depression of activity in the cerebral cortex. J. Neurophysiol. 7: 359–390
Carneiro-Nascimento S, Levy D. Cortical spreading depression and meningeal nociception. Neurobiol Pain. 2022 Apr 22;11:100091. doi: 10.1016/j.ynpai.2022.100091.
GBD 2017 Disease and Injury Incidence and Prevalence Collaborators. Global, regional, and national incidence, prevalence, and years lived with disability for 354 diseases and injuries for 195 countries and territories, 1990-2017: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2017. Lancet. 2018 Nov 10;392(10159):1789-1858. doi: 10.1016/S0140-6736(18)32279-7. Epub 2018 Nov 8.
GBD 2019 Diseases and Injuries Collaborators. Global burden of 369 diseases and injuries in 204 countries and territories, 1990-2019: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2019. Lancet. 2020 Oct 17;396(10258):1204-1222. doi: 10.1016/S0140-6736(20)30925-9.
Steiner TJ, Stovner LJ, Vos T, Jensen R, Katsarava Z. Migraine is first cause of disability in under 50s: will health politicians now take notice? J Headache Pain. 2018 Feb 21;19(1):17. doi: 10.1186/s10194-018-0846-2.
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