Wenn Leid sich vermehrt: Begleiterkrankungen bei Kopfschmerz & Migräne
Wenn das Leid sich vermehrt: Begleiterkrankungen bei Kopfschmerz und Migräne
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählt Migräne zu den am stärksten behindernden Erkrankungen der Menschheit, Kopfschmerzerkrankungen stellen allgemein für Betroffene eine große Belastung dar. Zusätzlich besteht bei Menschen, die an Kopfschmerzen oder Migräne leiden, ein erhöhtes Risiko dafür, dass zu ihrer Kopfschmerzerkrankung weitere Erkrankungen oder Beschwerden hinzukommen. Sogenannte Komorbiditäten bei Kopfschmerzen und Migräne werden in der jüngeren Forschung vermehrt in den Fokus genommen. Dieser Artikel stellt die neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiet dar.
Umfangreiche Erhebungen zeigen erhöhtes Risiko bei Kopfschmerzbetroffenen
In einer umfangreichen Übersichtsarbeit von 2021 wurden Daten aus 139 Studien der Jahre 2000 bis 2020 mit 4,2 Millionen Kopfschmerzbetroffenen ausgewertet: In 2,7 Millionen Fällen wurde von Begleiterkrankungen bei Kopfschmerzen und Migräne berichtet. Die am häufigsten genannten Komorbiditäten waren depressive Erkrankungen, Bluthochdruck und Angst-Erkrankungen. Nach den intensiven Forschungen der letzten Jahrzehnte kann es als gesichert gelten, dass primäre Kopfschmerzerkrankungen mit einer Vielzahl von Komorbiditäten vergesellschaftet bzw. assoziiert sind. Das heißt, dass Menschen, die an primären Kopfschmerzerkrankungen leiden, grundsätzlich ein erhöhtes Risiko für bestimmte Begleiterkrankungen haben. Primäre Kopfschmerzerkrankungen sind eigenständige Erkrankungen, dies unterscheidet sie von sekundären Kopfschmerzen. Letztere treten häufig als Folge anderer Erkrankungen oder Verletzungen auf, z.B. als Begleiterscheinung einer Gehirnerschütterung oder einer fortgeschrittenen Nebenhöhlenentzündung. Die mit großem Abstand häufigsten primären Kopfschmerzerkrankungen sind die Migräne und der Kopfschmerz vom Spannungstyp.
Korrekte Diagnose von Komorbiditäten: Unabdingbar und doch sehr rar
Die untersuchten Studien zeigen, dass Begleiterkrankungen von Kopfschmerzen häufig nicht korrekt diagnostiziert und dem zugrundeliegenden Kopfschmerz zugeordnet werden. Symptome von Angst- oder depressiven Erkrankungen beispielsweise werden oft nicht als solche erkannt, was wiederum eine gezielte Therapie unmöglich macht. Es zeigt sich in den Untersuchungen, dass bei den behandelnden Ärzt:innen oftmals zu wenig Bewusstsein und Kenntnis von Begleiterkrankungen bei Kopfschmerzen vorhanden ist und die Patient:innen in ihren Beschwerden nicht die Begleitung erfahren, die ihnen helfen würde. Das kann für die Betroffenen schwerwiegende Folgen haben, weil eine ganzheitliche Diagnose mit Berücksichtigung aller beteiligten Faktoren ihren Leidensdruck mindern und die Lebensqualität erheblich verbessern könnte.
Die Begleiterkrankungen sind vielfältig
Bei Menschen, die von einer primären Kopfschmerzerkrankung betroffen sind, wurden etwa 20% höhere Prävalenzen für Depressionen und Angststörungen festgestellt als in der Kopfschmerz-freien Bevölkerung. Besonders stark betroffen sind eher jüngere als ältere und eher weibliche als männliche Patienten. Als die am häufigsten vorkommenden psychiatrischen Komorbiditäten werden Angststörungen (25%), Depression (23%) und Posttraumatische Stresserkrankungen (15%) genannt, hier sind Migränepatient:innen besonders betroffen. Daneben treten auch körperliche Erkrankungen wie Bluthochdruck vermehrt auf, wobei hier die höheren Altersgruppen und die männlichen Patienten stärker betroffen sind. Herz- und Kreislauferkrankungen nehmen unter den Begleitkrankheiten bei Kopfschmerz einen bedeutenden Platz ein. So stellt Migräne (vor allem Migräne mit Aura) bei jüngeren Frauen einen erheblichen Risikofaktor für Schlaganfall dar. Auch ischämische Herzerkrankungen treten bei Migränepatienten häufiger auf als in der durchschnittlichen Bevölkerung.
Die Beeinträchtigung der Betroffenen steigt mit psychischen Komorbiditäten
Eine neuere Arbeit aus dem Jahr 2020 setzt den Grad an persönlicher Beeinträchtigung, den Betroffene durch ihre Migräne erfahren, mit der zusätzlichen Beeinträchtigung durch psychiatrische Begleiterkrankungen ins Verhältnis. Dafür wurde der sogenannte MIDAS-Wert herangezogen, eine in der medizinischen Praxis etablierte Größe, welche die individuelle Beeinträchtigung von Kopfschmerzbetroffenen anzeigt. Der Anteil an Patient:innen mit einem MIDAS-Wert, der eine moderate bis schwere Beeinträchtigung anzeigt, lag bei „nur Migräne“-Patient:innen bei etwa 28%. Lag eine zusätzliche Angststörung vor, stieg er auf 43%, bei Depression auf 51%. Für Migränebetroffene mit beiden Begleiterkrankungen stieg der Anteil auf 61%. Diese Daten zeigen eine messbare, erhebliche Verstärkung des Leidensdrucks von Migränepatient:innen, bei denen zusätzlich zu ihrer primären Kopfschmerzerkrankung diese psychiatrischen Erkrankungen vorliegen.
Ein Teufelskreis aus Kopfschmerz und Komorbidität
Besondere Beachtung muss dem Umstand geschenkt werden, dass primäre Kopfschmerzerkrankungen und die begleitenden Beschwerden sich gegenseitig beeinflussen können. Angst- und Depressionszustände gelten in der Forschung schon lange als unbestrittene Auslöser von Migräneattacken. Wenn sie gleichzeitig als Folge häufiger Kopfschmerzen auftreten, wird deutlich, wie stark sich Kopfschmerz- und Begleiterkrankung gegenseitig bedingen. Bei Schlafstörungen zeigt sich dasselbe Problem. Schlafstörungen treten sehr häufig parallel zu Kopfschmerzerkrankungen auf: Die durchschnittliche Prävalenz wird in den betreffenden Studien mit 48% angegeben. Schlafstörungen können dabei einerseits als Auslöser für Kopfschmerz wirken, andererseits wird in Studien beschrieben, dass häufiger Kopfschmerz ein erheblicher Störfaktor für einen erholsamen Schlaf ist. Das wiederum hat einen starken Einfluss auf die psychische Gesundheit, denn Schlafstörungen können unter anderem langfristig zu depressiven Begleiterkrankungen führen.
Nachhaltige Prävention kann vielfach wirksam sein
Letzteres stützt die altbewährte Maxime, dass eine gute Schlafhygiene stets eine tragende Säule bei der Prävention von Kopfscherzen und Migräne sein muss, und zeigt außerdem die Relevanz für ihre Begleiterkrankungen. Ganz allgemein lässt sich aus den genannten Erhebungen ableiten, dass eine nachhaltige Prävention von Migräne und Kopfschmerzen nicht nur den primären Erkrankungen selbst vorbeugen, sondern mittelbar auch eine Vielzahl von potenziellen Begleiterscheinungen verhindern kann: Je geringer die Kopfschmerzbelastung, desto geringer das Risiko für potenzielle Komorbiditäten und ihre gegenseitige Verursachung. Gleichzeitig muss es in der ärztlichen Betreuung der Betroffenen ein Umdenken dahingehend geben, dass belastende Begleiterscheinungen zuverlässig erkannt und gezielt behandelt werden, damit besonders Schwerstbetroffene mit ihrem vielfältigen Leiden nicht allein bleiben.
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