Wie stark ist mein Schmerz? Mit dem MIDAS-Score Migräne vermessen
Wie fühlen sich Migränekopfschmerzen an? Sind sie für alle Betroffenen gleich? Wie stark ist mein Schmerz und wie sehr schränkt er mich ein?
Wer Schmerzen messen will, steht vor einer großen Herausforderung. Individuelle körperliche Empfindungen müssen so ‚übersetzt‘ werden, dass Außenstehende sie nachvollziehen können und sie objektivierbar und vergleichbar werden. Wie soll das gehen? Diese Frage ist beinahe so alt wie das medizinische Interesse der Menschen, und bis heute fehlt uns eine Möglichkeit, uns so in das Empfinden eines anderen Menschen hineinzuversetzen, dass wir wirklich verstehen können, wie sich sein Schmerz anfühlt. Wenn wir aber darüber nachdenken, wie wir Schmerzen verbessern und ihnen vorbeugen können, brauchen wir ein Instrument, mit dem wir den Schmerz zu fassen bekommen. Auch in der Migräne-Therapie stellt sich die Frage, wie sich herausfinden lässt, wie stark Betroffene durch ihre Schmerzen beeinträchtigt sind, wie Schmerzen sich entwickeln und wie sie im Vergleich einzuordnen sind. Nur dann lässt sich beobachten, wie das Kopfschmergeschehen von Patient:innen verläuft und was ihnen am besten hilft.
Das Unmessbare messbar machen: Schmerz in Zahlen fassen
Um die vergangene Jahrtausendwende, zwischen 1999 und 2001, haben die Ärzte Walter Stewart (USA) und Richard Lipton (GB) die Herausforderung angenommen, ein Erhebungsinstrument zu entwickeln, das Migräneschmerzen messbar macht. Obwohl Schmerzempfinden eine höchst subjektive Sache ist, wollten sie Vergleichbarkeit zwischen den Empfindungen der Betroffenen schaffen. Außerdem war Zweck der Entwicklung, die Behandlung des individuellen Migränegeschehens zu optimieren, indem der Informationsaustausch zwischen Patient:in und Arzt/Ärztin verbessert wird: Es sollten verlässliche Grundlagen geschaffen werden, auf deren Basis man bessere Behandlungsentscheidungen treffen kann.
Um das Problem zu umgehen, dass es in der Praxis unmöglich ist, die Empfindung von Schmerzen zu messen, stellten die Entwickler keine Fragen nach dem individuellen Schmerzempfinden, sondern nach dem Grad der Beeinträchtigung, den Betroffene in ihrem täglichen Leben (Beruf, Schule, Studium, Freizeit, Familie) erfahren. Entstanden ist der sogenannte MIDAS-Score (Migraine Disability Assessment), der heute das Standardinstrument für die Messung der Beeinträchtigung ist, mit der Betroffene durch ihre Schmerzen zu kämpfen haben. Schon kurz nach seiner Vorstellung wurde der Fragebogen in zahlreiche Sprachen übersetzt und für die jeweiligen Länder validiert.
Was fragt man einen Schmerzpatienten?
Um eine geeignete Abfrage zu entwickeln, nahmen sich die Entwickler Kriterien vor, die für die Migräne-betroffene Bevölkerungskohorte der 20- bis 50-Jährigen als besonders krankheitsrelevant eingeschätzt werden (Prävalenz, Krankheitsauswirkungen, Belastungssituation). Daraus wurden fünf Kern- und zwei Zusatzfragen abgeleitet, die die kopfschmerzbedingte Beeinträchtigung der Betroffenen adressieren. Der Zeitraum, über den hinweg das Migränegeschehen erhoben wird, beträgt drei Monate.
Folgende Fragen stellt der MIDAS-Fragebogen:
- 1. An wie vielen Tagen in den letzten drei Monaten sind Sie wegen Kopfschmerzen nicht zur Arbeit oder zur Schule (bzw. in die Universität) gegangen?
- 2. An wie vielen Tagen war in den letzten drei Monaten Ihre Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz oder in der Schule um die Hälfte oder mehr eingeschränkt?
- 3. An wie vielen Tagen in den letzten drei Monaten konnten Sie wegen Ihrer Kopfschmerzen keine Hausarbeit verrichten?
- 4. An wie vielen Tagen in den letzten drei Monaten war Ihre Leistungsfähigkeit im Haushalt um die Hälfte oder mehr eingeschränkt?
- 5. An wie vielen Tagen in den letzten drei Monaten haben Sie an familiären, sozialen oder Freizeitaktivitäten wegen Ihrer Kopfschmerzen nicht teilnehmen können?
Zusatzfragen:
- A. An wie vielen Tagen hatten Sie in den letzten drei Monaten Kopfschmerzen?
- B. Wie stark waren diese Kopfschmerzen? Bitten geben Sie die Schmerzintensität auf einer Skala von 0–10 an. (0=keine Schmerzen, 10=unerträgliche Schmerzen)
Aus den in 1–5 abgefragten Zahlen ergibt sich per Addition der sogenannte MIDAS-Score. Diesem wird im Rahmen der Auswertung ein Grad der Behinderung zwischen I und IV zugeordnet, wobei Grad IV einer starken Behinderung entspricht. Die Zusatzfragen A und B dokumentieren die Häufigkeit und Schwere der Attacken. Sie finden keinen Eingang in den Score, sondern sollen dem behandelnden Arzt/Ärztin Entscheidungen zur angemessenen Therapie erleichtern. Der Erhebungszeitraum von drei Monaten ist einerseits kurz genug, dass die Betroffenen sich gut an ihre Kopfschmerzattacken erinnern können. Andererseits sind die 90 Tage so lang, dass die dokumentierten Ereignisse das Kopfschmerzgeschehen angemessen repräsentieren.
Warum der MIDAS sich durchsetzt
In umfangreichen Evaluationen konnte gezeigt werden, dass der MIDAS-Score verlässlich abbildet, wie stark Migränebetroffene durch Kopfschmerzen in ihrem Leben beeinträchtigt sind. Studien in den USA und Großbritannien konnten zeigen: Vergleicht man den ermittelten Wert mit Kopfschmerz-Tagebüchern, die Betroffene über 90 Tage hinweg führen, zeigt sich eine gute Übereinstimmung. In einer weiteren Studie mit Ärzt:innen aus 14 Ländern zeigte sich, dass die MIDAS-Ergebnisse gut mit den ärztlichen Einschätzungen bezüglich Schmerzstärke, Beeinträchtigung und dem Bedürfnis der Patient:innen nach ärztlicher Behandlung übereinstimmen. Außerdem bescheinigten die Mediziner:innen dem Instrument eine sehr gute Anwendbarkeit. Der weltweite Erfolg des MIDAS-Score hat schließlich dazu geführt, dass er in manchen Arbeitsgruppen inzwischen nicht mehr nur bei Migräne zum Einsatz kommt, sondern auch für die Beurteilung von Beeinträchtigung durch Spannungskopfschmerz eingesetzt wird.
Prävention braucht Dokumentation
Der MIDAS-Score unterstützt besonders gut solche Therapieansätze, die mittel- und langfristig einen präventiven Ansatz verfolgen. Behandlungserfolge können direkt in Form der Reduktion von Behinderung und damit auch als Verbesserung der Lebensqualität gemessen werden. Wo wir die Schmerzen eines anderen nicht nachempfinden können, hilft der MIDAS-Score, uns ein Bild darüber zu machen, was die Schmerzen für sein tägliches Leben bedeuten – eine relevante Größe im individuellen Leid und ein entscheidender Faktor für Kopfschmerzprävention.
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