Migräne – ein Wochenendphänomen?
Migräne – ein Wochenendphänomen?
Für die meisten Menschen sind die anstrengendsten Ereignisse während einer Woche normalerweise nicht gleichmäßig verteilt. Häufig ist es der montägliche Wochenbeginn, die berüchtigte Vorlesung um acht Uhr morgens, die einen direkt in den ersten Stress der Woche katapultiert. Ein andermal fordert das Seminar am Freitagnachmittag die letzten Reserven, wenn man im Kopf nur noch „auf der Durchreise“ ist. Und wenn das endlich geschafft ist, stehen für viele Studierende auch noch Wochenendfahrten zu Familie und Freunden an, Nebenjobs wollen bewältigt sein. Solche Phasen mit besonderen Stressauslösern kennt jeder – sowohl im Studien- oder Berufsalltag als auch außerhalb. Auch ohne besondere Häufung können die „normalen“ Anstrengungen, kombiniert mit unseren eigenen Ansprüchen an uns selbst, dazu führen, dass hartnäckige Kopfschmerz- oder Migräneattacken uns anscheinend gerade dann zu schaffen machen, wenn wir etwas unternehmen, Freunde treffen oder auch einfach nur entspannen und neue Kräfte tanken wollen: am Wochenende. Diesen Eindruck bekommt man zumindest durch Berichte mancher Zeitgenossen.
Was steckt hinter dieser von vielen Menschen geteilten Wahrnehmung? Trifft sie tatsächlich zu, oder handelt es sich dabei womöglich um einen falschen Eindruck? Was davon lässt sich mit den Werkzeugen der Wissenschaft belegen oder entkräften? Hier analysieren wir einige Untersuchungen dazu.
Die Studienlage
So versuchte man bereits vor 30 Jahren, dem Phänomen mithilfe wissenschaftlicher Untersuchungen auf die Spur zu kommen. Allerdings existierte zu dieser Zeit bei weitem noch kein so umfangreiches Wissen zum Thema Migräne wie heute. Das erklärt, warum die Studien zum Teil widersprüchliche, wenig aussagekräftige Resultate lieferten. Auch war damals nicht bekannt, dass Patienten Migräneattacken durch Präventionsmaßnahmen aktiv angehen und so bereits im Vorfeld vermeiden oder lindern können.
Das renommierte Stockholmer Karolinska-Institut veröffentlichte eine Erhebung zur Verteilung von Migräneattacken im Wochenverlauf. Über etwa zwei Monate hinweg dokumentierten Migränepatientinnen, wie häufig und an welchen Tagen der Woche bei ihnen Migräneattacken auftraten. Das Resultat zeigte, dass es keine Häufung an den Wochenenden gab, sondern die Beschwerden auch über den Rest der Woche etwa gleich verteilt waren. Einen Beweis für die Wochenend-Hypothese konnte diese Studie also nicht erbringen.
Ungefähr zur gleichen Zeit publizierte Pietro Cugini von der römischen Universität „La Sapienza“ eine über zwölf Monate hinweg durchgeführte Untersuchung, die von einer Häufung der Migräneattacken sowohl an Wochenenden als auch in den Wintermonaten berichtet. Gleichwohl förderte auch diese Studie keine Erkenntnisse über die Ursachen des Phänomens zutage.
Aus Norwegen liegt eine Erhebung vor, bei der weibliche Migränebetroffene über ein Jahr alle Informationen über ihre Migräneattacken sammelten. In der Auswertung zeigte sich hier allerdings eine nahezu gleiche Verteilung über die Woche und sogar ein Rückgang der Beschwerden sonntags und an freien Tagen. Samstags verzeichneten die Patientinnen eine gegenüber der restlichen Woche unveränderte Häufigkeit ihrer Migräne. Die Autoren erklären die Gleichförmigkeit des Kopfschmerzgeschehens über sechs von sieben Wochentagen damit, dass der Samstag im Wochenplan der meisten Menschen nicht als klassischer Ruhetag gestaltet wird, sondern mit vielfältigen, alltagsähnlichen Aktivitäten angefüllt ist und sich daher nicht von den Arbeitstagen unterscheidet. Auch in dieser Untersuchung findet sich kein Nachweis für eine besondere Häufung der Kopfschmerzereignisse an Wochenenden. Sie deutet sogar auf einen gewissen Schutzeffekt freier Tage gegen Migräne hin.
Einflussfaktoren Schlaf und Koffein
Eine Untersuchung britischer Wissenschaftler nimmt zusätzlich zwei Faktoren in den Blick, die von jeher als Einflussgrößen gehandelt wurden, wenn es um die Entstehung von Migräneattacken ging. Die Rede ist vom Koffeinkonsum und von den Schlafgewohnheiten. Statistisch lässt sich zeigen, dass vor allem Berufstätige während ihrer Arbeitswoche wesentlich mehr koffeinhaltige Getränke zu sich nehmen als am Wochenende und dass dies bereits früh am Tag beginnt. Am Wochenende treten nun mehrere Gewohnheitsänderungen zugleich ein: Die Menschen schlafen länger (etwa eine Stunde), trinken ihren ersten Kaffee oder Tee dadurch später am Tag, und sie konsumieren am Wochenende insgesamt weniger davon. Die Autoren der Studie vermuten genau darin Faktoren, welche Migräneattacken zumindest begünstigen oder bei manchen Patienten sogar auslösen. In der Tat brachte die Studie Resultate hervor, die eine solche Vermutung stützen: Bei sämtlichen Probanden, die über Wochenendmigräne klagten, war zum einen der Koffeinkonsum über die gesamte Woche hinweg besonders hoch, zum anderen schliefen diese Teilnehmer am Wochenende länger als der Durchschnitt aller Untersuchten. Diejenigen Befragten, die im Hinblick auf Koffein und Schlaf keine Abweichungen zeigten, waren beschwerdefrei. Die Befunde lassen vermuten, dass es die Wochenendmigräne als unabhängiges Phänomen zwar nicht gibt, die veränderten Konsum- und Schlafgewohnheiten der Patienten aber durchaus als auslösende Faktoren wirksam werden können.
Allen genannten Studien ist gemeinsam, dass die Zahl der untersuchten Patienten vergleichsweise niedrig war. Vor diesen Hintergrund erscheint eine sichere statistische Beweisführung problematisch.
Deshalb betrachten wir nun noch eine neuere Erhebung, in der Informationen von 1000 Teilnehmern zusammengetragen und ausgewertet wurden. Dabei ergab sich ein recht differenziertes Bild des Kopfschmerzgeschehens, in dem mehrere Einzelaspekte Bedeutung gewinnen. Aus der Gesamtheit der untersuchten Personen konnte man Untergruppen identifizieren, bei denen die Migräneereignisse ähnliche Muster aufweisen. So ergab sich bei einer Reihe von Teilnehmern eine Häufung von Migräne in der Wochenmitte, während eine zweite Gruppe vor allem am Wochenende betroffen war, mit einem Schwerpunkt auf dem Samstag. Insgesamt sprechen die Autoren allerdings von einer sehr individuellen Verteilung der Beschwerden, die sich einer allgemein gültigen Gesetzmäßigkeit entzieht. Die Verfasser führen an, dass die Lebensführung und die Gestaltung von Berufs- und Alltagsleben wie auch das Konsumverhalten und die Belastungssituation der Teilnehmenden sehr unterschiedlich sind. Daraus ergeben sich auch für die Faktoren, die Migräneattacken begünstigen oder auslösen können, vielfältige Verteilungsmuster. So scheint es nachvollziehbar, dass sich auch in dieser umfangreichen Studie keine „Hoch-Zeiten“ ausmachen lassen, zu denen alle Migränepatienten gleichermaßen mit ihren Beschwerden zu kämpfen haben. Migräne als Wochenendphänomen mag im individuellen Erleben also durchaus vorkommen, wissenschaftlich belegen lässt es sich hingegen bislang nicht.
Was können wir also tun?
All das bedeutet indes nicht, dass man Migräne bis heute hilflos ausgeliefert ist. Aus dem enormen Wissen um Ursachen, Einflussfaktoren und Begleitphänomene von Migräneerkrankungen, das in Jahrzehnten zusammengetragen wurde, konnte eine Vielzahl von Maßnahmen und Methoden entwickelt werden, mit denen Betroffene effektiv die Zahl der Attacken reduzieren und deren Dauer und Schwere vermindern können. Die auf unserer Website zusammengetragenen Empfehlungen sind ein erster Schritt. Wer darüber hinaus auch im Alltag ein möglichst kopfschmerzpräventives Verhalten einüben will, dem steht mit unserer medizinisch zertifizierten „Headache Hurts“-App ein Tool zur Verfügung, das helfen kann, den Alltag so zu gestalten, dass Beschwerden aktiv vorgebeugt werden kann.
Den Link zur App findest du hier:
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Literatur
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